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Dienstag 12. Juni 1990, Irkutzk
Am Abend ziehen wir um in das Hotel Intourist in Irkutzk. Von unsere Zimmer im vierten Stock geht der Blick auf die Angara.
Selten haben wir uns auf Reisen so viele Gedanken über die Organsation der Gastronomie gamacht. Der Grund sind nicht so sehr die Engpässe und die geringe Auswahl, wenngleich es seltsam anmutet, dass ein großes Hotelrestaurant aus seinem Rohstoffkontingent nicht mehr als zwei oder drei ständig wiederkehrende Gerichte herstellen kann oder in einer REgion kein Bier aufzutreiben ist, andererseits Champagner im Überfluss vorhanden zu sein scheint und umgekehrt. Was uns immer wieder aufbringt ist die Haltung enes Großteils des Personals, das den Gast als Betriebsstörung einstuft und ihn entsprechend behandelt. So ergeht es uns auch heute Abend. Theoretisch sind die beiden Speiserestaurants des Hotels geöffnet. Wir betreten das Größere von beiden und bitten die fünf Damen, die den Tisch des Administrators umstehen, um Plazierung. Die Damen kirchern, fassen sich und weisen uns ab. Hier im zweiten Geschoß sei nur Platz für Gruppen, obwohl es fast leer ist und offentsichtlich ein paar „Individuals“, wie hier Einzelreisende bezeichnet werden, schon sitzen. Bitte ab ins erste Geschoß. Wir folge dem Befehl. Dort schnauzt uns die Administratorin an, was wir wollten. Ihrer Miene nach zu urteilen kann sie unser Anliegen, nämlich zu Abend zu essen, kaum fassen. Schließlich beruhigt sie und weist uns einen Tisch mit unvollständigen Gedecken an, obwoh durchaus vollständig eingedeckte Tische vorhanden sind. Nun haben wir zwar Plätze im Restaurant, aber noch lange nicht bestellt. Zwar bewegen sich drei Personen im Raum, die wie Kellnerinnen und Kellner gekleidet snd, die fühlen sich aber nicht angesprochen. Nach einer ereinignislosen Viertelstunde stellen wir die Adminstratorin so gut es die Sprachkenntnisse zulassen zur Rede und bequemt sich die stämmige Dame tatsächlich dazu, die zuständige Kellnerin herbeizurufen. Die kommt dann total gekränkt an unseren Tisch. Beim Bestellen rächt sie sich und nimmt auf unsere Verständigunsprobleme keine Spur Rücksicht.
Mittwoch 13. Juni 1990, Irkutzk
Heute erkunden wir das Zentrum von Irkutzk, die Gegend um die Karl-Marxa-Uliza und die Maratna-Uliza, besuchen Buchläden, Schmuckgeschäfte, das Stadtmuseum. Ein Buchladen verkauft Frontkarten des Zweiten Weltkriegs, eine Art Militaria des „Großen Vaterländischen Kriegs“. In enem Schmuckgeschäft, Irkutzk ist das Zentrum der Nephrit und Lapislazuliverarbeitung, herrscht am Vormittag wahnsinniger Andrang. Mittags ist der Laden annähernd ausverkauft. Irkutzk wirkt auf uns viel mehr als Achschabad, Taschkent oder Alma Ata wie eine europäische Stadt. Zwar sind auch hier die Straßen von Baumreihen gesäumt, doch der Zusammenhang der Gebäude verliert sich nicht zwischen Baumkronen. Die Straßenbäume sind fast durchweg Pappeln. Heute fliege die weißen Flocken mit den Samen, geraten in Augen, Ohren und Nase, verfangen sich in den Haaren, bilden auf den Gehsteigen flauschige Polster, die der Wind vorsichhertreibt. Das Stadtbild prägen alte ein- und zweigeschoßige Holzhäuser mit komplizierten Schnitzereien. Leider ist der Zustand dieser und anderer Häuser nicht sehr gut.
Donnerstag 14. Juni 1990, Irkutzk
In einer Kirche bei der Gedenkstätte für den Zweiten Weltkrieg, nicht weit vom Ufer der Angara, ist ein Museum. Gezeigt werden präparierte Tiere des Oblast (Bezirks), Schmetterlinge und Käfer aus aller Welt, lebendig in Terrarieren etliche Schlangen, Lurche und Insekten, teilweise aus Zentralasien, und im Obergeschoß Kunsthandwerk aus China und Tibet.
Am Nachmittag fahren wir mit dem O-Bus in das Universitätsviertel am Westufer der Angara, Nach einigem Suchen und mit Hilfe von drei netten, schüchternen Studentinnen finden wir den Seiteneingang zum Mineralogischen Museum der Irkutzker Polytechnischen Hochschule. Der Aufwand lohnt sich, hier kann man nicht zuletzt viele schöne Fundstücke aus dem Bezirk und aus ganz Sibirien betrachten. Die Sammlung ist akribisch geordnet. Wir sind die einzigen Besucher.
Freitag 15. Juni 1990, Irkutzk
Morgens Viertel vor Sieben klingelt der Wecker. Unser Plan sieht eine Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn von Irkutzk bis nach Sludjanka am Südwestufer des Baikalsees vor, wie uns mehrfach versichert wurde wurde landschaftlich und wegen der waghalsige Bahntrasse, die sich in engen Kurven zum See hinabwindet, ein beeindruckendes Erlebnis. Rechtzeitiges Eintreffen auf dem Bahnhof erscheint angezeigt, denn am Vorabend hatte sich die Beamtin am Schalter geweigert, vorab Billets auszustellen. Doch der Blick aus dem Fenster zeigt einen bleigrauen Himmel, die Bäume biegen sich unter Windböen. Es regnet. Da brechen unsere Vorsätze in sich zusammen und wir legen uns wieder schlafen. Den Tag vertrödeln wir lustlos und ohne besonderes Ziel.
Am Abend bestätigt uns das Servicebüro im Hotel, dass es doch noch gelungen ist, den Rückflug nach Moskau einen halben Tag vorzuverlegen. Das bedeutet um vier Uhr morgens aufzustehen. In Gedanken beschäftigen wir uns nach dem Zeitungsstudium zunehmend mit Weltpoitik und mit unserer Arbeit zu Hause.
Samstag 16. Juni 1990, Irkutzk – Moskau
Viertel vor fünf klopft der Hotelportier an unsere Türe, wir sind bereit.. Dann sitzen wir in der schummrig beleuchteten Hotelhalle. Draußen bleibt alles still, kein Intouristauto biegt auf den Vorplatz ein. Auf der Suche nach Unterstützung stellen wir fest, dass die Halle nur scheinbar leer ist, in verschiedenen Winkeln schläft Nachtpersonal. Wir finden den Richtigen, ein Telefonat, mit eniger Verspätung beginnt der „Transfer“ zum Flughafen.
Die Tupolew 154 benötigt drei Stunden bis zur Zwischenlandung im westsibirischen Omsk und nach 40 Minuten Aufenthalt weitere drei Stunden bis Moskau. Wir starten um 6:30 Uhr und kommen um 8:30 Uhr (Ortszeit) an. Für die letzte Übernachtung ist das Hotel Belgrad in der Nähe des Arbat und gegenüber des Außenministeriums vorgesehen. Unser Wunsch, noch am gleichen Nachmittag den Weiterflug zu erhalten, führt zum Zusammenstoß mit einer Frau von der Rezeption. Sie weigert sich dreist die Flugtickets zurückzugeben, die wir für die Umbuchung durch das Servicebüro benötigen und will uns auf unser Zimmer im 19. Stockwerk schicken. Das Servicebüro ist theoretisch geöffnet, praktisch jedoch nicht besetzt. Schließlich können wir unser Anliegen vortragen. Nach langer Wartezeit erhalten wir den Bescheid, Aeroflot könne nicht einmal den regulären Flugtermin bestätigen. Wir sollen uns am nächsten Morgen auf dem internationalen Flughafen Scheremetjewo 2 beim Intouristschalter melden. Dort werde man sich um uns kümmern. Wir sind einigermaßen beunruhigt, denn wir hatten von Engpässen bei Aeroflot gehört. Aber alle Versuche noch am gleichen Abend eine Klärung herbeizuführen, scheitern an den Bürozeiten und Unzuständigkeit.
Sonntag 17. Juni 1990, Moskau – Frankfurt
Im Abfertigungsgebäude herrscht hektisches Gedränge. Dass der Schalter von Intourist geschlossen ist, ruft bei uns nur noch ein müdes Lächeln hervor. In der Schlange vor dem Aeroflotschalter geraten wir in eine deutsche Reisegruppe. Unter den Heimkehrenden grassiert die Furcht, ihr Trupp könnte durch uns auseinandergerissen werden. Eine stämmige, ältere Frau mit ausgeprägtem bayrischen Dialekt tut sich besonders hervor, Gerhard Polt lässt grüßen.
Kurz vor der Landung in Frankfurt komme ich mit meinem Sitznachbarn, einem russischen Geschäftsreisenden aus Moskau, ins Gespräch. „Vier Wochen Urlaub in der Sowjetunion, einen ganzen Monat lang?!“, staunt er.
ENDE
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Samstag 09: Juni 1990, Flug von Alma Ata nach Irkutzk und Weiterfahrt nach Listwjanka am Baikalsee
In Irkutsk kommt die Maschine mit Verfrühung an, wie bisher fast jeder Flug. Ich bin noch etwas benommen, denn mein Vordermann in der bedrückend engen Tupolew 154 verströmte ein sehr intensives Aroma, eine Mischung aus gereiften Käsefüßen und mir unbekannten Komponente. Intourist Irkutsk ist auf unser Erscheinen nicht vorbereitet und weiß mit uns nichts anzufangen. Dem Problem, dass wir eine zusätzliche Nacht im Hotel verbringen müssen, wollen sich die ziemlich desinteressiert wirkenden Intouristleute nicht stellen und die Frau, mit der wir verhandeln, ist sichtlich erleichert, als wir vorschlagen, auf den gebuchten Transit zu verzichten und die rund 60 Kilometer bis zum Hotel Baikal in der Ortschaft Listwjanka mit einem Taxi zurückzulegen. Für 50 Rubel findet sich ein Fahrer. Er ist bester Stimmung und weist uns unterwegs durch die Taiga auf etliche Datschen-Siedlungen für prominente Sowjetbürger hin. Im Hotel löst unsere um eine Nacht verfrühte Ankunft keine Freude aus, obwohl es nicht an Unterbringungsmöglichkeiten mangelt. Nach mehreren Telefonaten zwischen der Rezeption und Intourist Irkutsk gesteht man uns vorerst nur für eine Nacht ein Zimmer zu.
Im Vergleich zu Alma-Ata sind die Uhren um drei Stunden vorzustellen, die Zeitdifferenz zu Moskau beträgt jetzt sechs Stunden. Das Restaurant öffent erst um 19 Uhr, es bleibt eine Stunde Zeit für einen ersten Spaziergang auf der Uferstraße entlang des Baikalsees. Die Häuser des Örtchens sind durchweg aus Holz gebaut und bunt angestrichen, oft grün oder blau. Die meisten der Wohnhäuser bieten sicher nicht mehr als zwei Zimmern Raum. Häufig sind die Fenster farbig abgesetzt und mit komlizierten Schnitzereien verziert. In den kleinen, mit Bretterzäunen abgegrenzten Gärten fallen die gepflegten Gewächshäuser auf. Bei unserer Ankunft betrug die Temperatur 22° Celsius, hier am Seeufer frösteln wir, ein deutlicher Kontrast, nachdem wir uns an das mittelasiatische Kima gewöhnt hatten.
Während wir uns im Restaurant noch über die Bekömmlichkeit des Abendessens verständigen, spaziert eine Kakerlake über das Tischtuch. Wir werten das nicht als gutes Zeichen und ein Teil der nicht sehr vertrauenserweckenden Speisen bleibt unverzehrt. Die Sonne geht merkwürdig spät, erst um 22 Uhr Ortszeit unter, etwas stimmt mit dem Zuschnitt der Zeitzonen nicht.
Sonntag 10. Juni 1990: Listwjanka
Der Morgen bringt zwei Überraschungen: Ein gutes Frühstück mit Schinken, Pflaumenmarmelade und frischem Graubrot und, nach weiteren Telefonaten das Einverständnis von Intourist Irkutzk mit der Verlängerung unseres Aufenthalts im Hotel Baikal in Listwjanka nach eigener Wahl, entsprechend wird sich der Aufenthalt in Irkutzk verkürzen.
Wir packen ein paar Sachen zusammen und wandern auf der Uferstraße zum Hafen der Ortschaft, in dem die Raketa-Schnellboote aus Irkutzk anlegen. Listwjanla ist verstreut, einige Teile ducken sich in schmale Täler mit bescheidenen Zuflüssen des Baikal, eingegraben in die bewaldeten Taigahänge. Die Schiffsfahrpläne klären uns auf, dass der Hauptverkehr zwische Irkutzk und Port Baikal abgewickelt wird, dem Nachbarort am anderen Ufer der Angara, des stromartigen Abflusses des Baikalsees. Soweit wir erkennen können verkehren nur wenige Schiffe entlang des Nordufers des Sees und auch die nur bis einer höchstens 30 Kilometer entfernten Anlegestelle. Es ist Mittag und Zeit, sich nach etwas Essbarem umzusehen. Ein Imbiss am Hafen verkauft Kuchen (Preis nach Gewicht) und gekochte Eier. Auf einer Bank am Seeufer verzehren wir unser Mittagessen, etwas Trinkbares ist nicht aufzutreiben. An der kleinen Werft vorbei, deren Kantine auch sonntags für Beschäftigte und deren Angehörige geöffnet hat, folgen wir der Uferstraße, die bald in einen holprigen Pfad übergeht. Es ist ein sonniger Tag und aus der Umgebung kommen Leute mit Bussen, PKW oder Motorrädern und verteilen sich am Kiesstrand vor dem Steilufer des Baikal zum Sonnen. Nur Wenige schwimmen, am Strand weht ein kühler Wind. Überall sind Papier, Glasscherben und leere Konservendosen verstreut. Schließlich bleibt der Müll zurück und der Weg schrumpft nördlich von Listwjanka zum Pfad. Ihm zu folgen wird immer riskanter, daher kehren wir bald um. eine zeitlang liege wir im Schatten der Bäume, und als wir uns entschließen, den Weg fortzusetzen, sind wir mächtig hungrig. Die Imbissbude vom Mittag hat sich inzwischen verwandelt: Abgesehen von Keksen gibt es nichts mehr Essbares, dafür aber Fruchtsaft und Bier. Das geduldige, disziplinierte Schlangestehen ist nicht (mehr) in dem Maß eine sowjetische Tugend, wie manche Reiseführer behaupten. Um das Bier wird gekämpft. Es kommt zu lautstarken Wortgefechten zwischen einer Verkäuferin, die maximal zwei Flaschen pro Person abgeben will und einigen Interessenten an größeren Kontigenten. Derweilen vertreibt die zweite Verkäuferin ungeniert gegen Aufpreis fünf oder sechs Flaschen pro Käufer wahllos am Ende der Schlange oder in der Mitte. In dem hitzigen Getümmel finden wir kein Gehör und scheiden bal d freiwillig aus der Konkurrenz aus. Kurz darauf entdecken wir ein kleines Restaurant, das uns vorher entgangen war und finden gegen jede Wahrscheinlichkeit auf Anhieb Platz. Es gibt Huhn in der Suppe oder als Braten, zweifellos gegenwärtig das häufigste Fleischgericht in der Sowjetunion. Sehr viel kräftiger setzen wir die Wanderung fort. Auf der Uferstraße stehen und liegen mehrere Kühe. Von Personenautos und selbst Omnibussen lassen sie sich nicht stören. Die Lücken zwischen ihren Leibern reichen gerade aus, um einen im Schritttempo fahrenden Bus passieren zu lassen.
Unweit des Hafens liegt der größte Ortsteil Listwjankas geschützt in der ausgedehntesten Talmulde der Gegend. Entlang eines Bachs führt ein holpriger, unbefestigter Weg in das Dorf zu einer äußerlich unscheinbaren orthodoxen Kirche und weiter in die Taiga. Am Bachufer in der Nähe der Kirche, aufgereiht an einem Zaun, arbeiten junge Leute an Ölgemälden. Wie sich gleich herausstellt sind es Studenten einer Kunstakademie ausWladiwostok, der sibirische Stadt am Japanischen Meer, im Praktikum. Flüchtig betrachten wir im Vorbeigehen einige ausgestellte Arbeiten und Eva erwirbt für 15 DM eine Abenddämmerung am Baikal, ein Bild im impressionistischen Stil, groß wie eine Schreibmaschinenseite. Mit einem anderen Studenten kommt eine Unterhaltung auf deutsch, englisch und russisch zustande. ER besteht darauf, uns mit Kohle zu porträtieren, zuerst Eva. Er benötigt nur wenige Minuten und zum Abschied bekommen wir die Zeichnungen, beinahe Karrikaturen, geschenkt. Das Kirchenportal steht offen, drinnen wieseln zwei alte Frauen mit den charakteristischen Kopftüchern vor der mit Ikonen behangenen Wand umher und bereiten den Gottesdienst vor.
Allmählich lassen wir die letzten Häuser hinter uns. Der Weg führt nun am Ostrand des sumpfigen Tals in den Wald. Links und rechts steigen die Hänge auf maximal 1250 Meter an, der Wasserspiegel des Baikal liegt 750 Meter über dem Meer. Fünf Baumarten bilden hier die Taiga: Kiefern, Lärchen, Birken, Espen und Fichten, stellenweise angereichert um Erlen, Traubenkirschbäume und Palmweiden. Fichten und Kiefern treiben gerade aus. Die Bäume stehen nicht so dicht wie in den industriegerechten mitteleuropäischen Nadelwäldern und schon gar nicht in Reih und Glied. Alle Alterstufen existieren nebeneinander, daher dringt genügend Licht für Sträucher, Blütenpflanzen und Farne bis zum Boden durch. Die Taiga blüht: An einem trockenen Hang wuchert ein Unterholz aus rotblühenden Rhododendren und weißer Waldrebe, an lichteren Stellen finden wir Preiselbeersträucher und blaue Iris. An einer weiteren Erkundung hindert uns die einsetzende Dämmerung.
Nach dem ausgedehnten Marsch sitzen wir hungrig im Hotelrestaurant. Unsere Portionen werden serviert, bevor es uns gelingt zu bestellen. Die Speisen wurden offenbar schon vor Stunden zubereitet, sie sind kalt, allenfalls lauwarm und unappetitlich fettig. Aber es gibt ausreichend Brot. Weshalb ist eine Küche, die ein ordentliches Frühstück herstellen kann, nicht in der Lage ein genießbares Abendessen zu produzieren?
Montag 11. Juni 1990, Listwjanka
Heute wandern wir an der Angora entlang bis zur Ortschaft Nikola. Vormittags um 10 Uhr ist es am Wasser bitterkalt. Wir überqueren die Straße nach Irkutzk, die dem Flusslauf folgt. Der Ort setzt sich beiderseits enes schmalen Bachs fort, Wohnhäuser mischen sich mit Wochenend-Datschen. Die Holzhäuschen sind an die Stromversorgung angeschlossen, Wasser holen die Bewohner mit Eimern aus dem Bach oder fördern es mit Motorpumpen und Schlauchleitungen in ihre bescheidenen Anwesen. Der erste Frost dürfte dieser Art der Wasserversorgung den Garaus machen. Die Zahl der Datschen wächst, sie fressen sich in die Hänge der Taiga. Die steinige Dorfstraße schrumpft zum schmalen Waldweg. Die Sonne scheint, am blauen Himmel treiben weiße Schönwetterwolken. Weit genug vom Baikal und der Angora entfernt ist es windstill und angenehm warm. Entlang des Wegs, unter den Bäumen und auf klenen, sonnigen Lichtungen blühen weiße, gelbe, rote und blaue Blumen. Am auffälligsten sind die gelben und orangen Kugeln der Trollblumen, die hier in Massen wachsen. Am wenigsten erwartet hätten wir den Siebenstern, der hier vermoderte Baumstümpfe bewächst. Überall Blüten: Blaue Akelei, eine merkwürdige grünblühende Lilie, Einbeeren, Storchenschnabel, Bärlapp, Veilchen und viele Pflanzen, deren Namen wir nicht kennen. Die Taiga präsentiert sich als heitere Idylle. Irgendwann reduziert sich unser Weg zum Pfad und verliert sich schließlich in der Wildnis. Hier ist es beinahme unheimlich still, nur das Gezwitscher der Vögel ist zu hören. Wir kehren um.
Mit dem Linienbus aus Irkutzk fahren wir von Nikola nach Listwjanka zurück. Als Mittagessen sind nur Plätzchen und Saft aufzutreiben. Den Nachmittag verbringen wir in der Nähe des Hauptdorfs von Listwjanka in der blütenübersäten, beängstigend menschenleeren Taige, der in der es Braunbären geben soll.
Für morgen 10 Uhr ist unsere Abreise nach Irkutzk vereinbart. Zufällig erfahren wir, dass dieser Termin auf den Nachmittag, 16:30 Uhr, verlegt wurde.
Dienstag 12. Juni 1990, Listwjanka
Die Eigenmächtigkeit von Intourist fügt sich ganz gut in unsere Pläne. Wir erhalten so Gelegenheit, an einer Führung durch das Museum des Limnologischen Instituts der Sibirischen Akademie der Wissenschaften der UdSSR teilzunehmen. Das Gebäude liegt an der Uferstraße, nur wenige 100 Meter vom Hotel entfernt. Wir sind zu dritt, außer uns nimmt nur noch eine allein reisende alte Dame aus den Niederlanden teil. Unsere Führerin, eine Lehrerin, trägt in englischer Sprache vor. Es ist ein kleines, aber feines Museum. Das Schwergewicht liegt auf den Fischen und Robben des Baikal und den Säugetieren der Umgebung. Daneben werden Vögel, Mineralien und Fossilien gezeigt. Das Institut hat einiges bei der Aufklärung der Geschichte und Ökologie des Baikalsees geleistet und bemüht sich um die Erhaltun des natürlichen Zustands. Spektakulärster Bestandteil der technischen Ausrüstung sind zwei kleine Tauchboote, die uns schon im Hafen von Listwjanka aufgefallen waren. Sie dienen u.a. zur Erkundung des lichtlosen Seebodens mit seiner merkwürdigen Fauna, etwa kleinen Fischen, die ihr Revier mit weißen Steinchen markieren. Das Institut beschäftigt 500 Personen, von Fischern vis zu Biologen, davon rund 150 Wissenschaftler. Zur Erhaltung des ökologischen Gleichgewichts wurde ein Projekt zur Industrieansiedlung innerhalb von drei Jahren ausgearbeitet und von den politischen Institutionen beschlossen. Als eines drer größten Probleme werden uns die drei Papierfabriken am Baikal und seinem Hauptzufluss, der Selenga, beschrieben. Die Selnga transportiert den Dreck aus Industrie und Haushalten der Großstadt Ulan Ude weitgehend ungereinigt in den Baikal, es ist dies die wichtigste Verschmutzungsquelle. Spürbar sind daneben die Einleitungen aus einigen Ortschaften an der Süd- und Nordspitze des Sees, im Norden ist insbesondere im Winter die Abwärme aus den Heißwassergeräten ein Problem. Noch verkraftet der See die Schmutzfracht. Die Uferbewohner werden mit Trinkwasser aus dem See versorgt, das keine Reinigungsanlagen durchläuft. Das gilt auch für das Hotel Baikal, in dem wir wohnen. Soweit ihre Häuser nicht an das Verteilernetz angeschlossen sind, schöpfen die Menschen am Ufer Wasser in Kanister und fahren oder tragen den Bedarf zu ihren Häusern.
Manche Auswirkungen menschlicher Eingriffe in die Ökologie konnten wieder beseitigt oder wenigstens gemildert werden. Beispielsweise hatte das Aufstauen des Sees um nur einen Meter, Folge der Wassrerkrafterzeugung an Staustufen in der Angora, unerwartete Konsquenzen. Weil die Nahrungskette an einer Stelle unterbrochen wurde, schmolz die Population eines Charakterfischs des Baikal dahin. Inzwischen wurde der ursprüngliche Wasserspiegel wieder hergestellt und die Art erholte sich. Ins Schwärmen gerät unsere Führerin immer wieder, wenn sie auf das glasklare Seewasser zu sprechen kommt. Bei einer kürzlich von Bord eines Schiffes durchgeführten Messung war die Dreißigmetermarke noch zu erkennen. Im Winter friert der Baikal völlig zu, das Eis sll auch heute noch so makellos sein, dass man seine Stärke nicht abschätzen kann. Im nördlichen Zipfel des immerhin 600 Kilometer langen Sees treiben bis Juni Eissschollen.
Das Nordwestufer fällt fast senkrecht bis zu 1600 Meter ab. Der Seeboden und seine Ränder sind geologisch aktive Zonen, die Gegend wird ständig von kleineren Erdbeben erschüttert, beim letzten großen Beben versank eine bewohnte Halbinsel im Wasser.
Ökonomisch ist der Robbenfang im Norden des Baikal von einiger Bedeutung. Unter Kontrolle, versichert unsere Führerin, werden jährlich 5000 Tiere für den Pelzhandel gejagt. Die Einheimischen erlegen für ihren Eigenbedarf noch einmal 4000 bis 5000 Baikalrobben pro Saison. Die Zobel, die im Nordosten des Baikal im Gebirge leben, sollen die besten Pelze ihrer Art besitzen. Sind in einem großen Gebiet total geschützt, außerhalb dieses Refuguims wird ihnen saisonal nachgestellt.
Vom Hotel aus erkennt man auf dem Berg, der die Landspitze zwischen Baikal und Agora bildet, einen Felsen mit einer kleinen Aussichtsplattform darauf. Am Nachmittag finden wir den Weg dort hinauf. Sobald wir die letzten Häuser von Listwjanka hinter uns lassen, beginnt wieder die Baum-, Strauch- und Blumenidylle der Taiga, die uns auch heute wieder fasziniert. Oben angelangt haben wir gute Sicht über den südlichen Baikal und die Berge des gegegenüberliegenden Ufers, über 2300 Meter hoch und mit Schneeresten gespenkelt, sind deutlich zu erkennen. Der Himmel bedeckt sich allmählich mit bleigrauen Wolken, entfernter Donner kündigt ein Gewitter an. Träge baumeln Stofffetzen an den Zweigen der Sträucher rngs um den Gipfel, vermutlich sollen sie Glück bringen.
FORTGESETZUNG IN DER GALERIE IRKUTZK
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Mittwoch 30. Mai: Tasckent in Usbekistan
10:30 Uhr sind wir in Taschkent. Ein Fahrer von Intourist erwartet uns und schon sind wir auf dem Weg zum Hotel Usbekistan am Karl-Marx-Prospekt.
Nachmittags erkunden wir zu Fuß die nähere Umgebung des Hotels. Breite Straßen mit doppelten oder dreifachen Baumreihen, schattige Parks, Kanäle mit starker Strömung zählen zu den ersten Eindrücken. Es ist sehr heiß, kleine Jungen baden in den zahlreichen Springbrnnen und in den Kanälen, nie Mädchen.
Zum Abendessen im Hotel sind wir mit einem der beiden Experten für Landmaschinen aus der DDR verabredet, der ein Zimmer zwei Etagenn tiefer bewohnt und geschäftlich in Taschkent zu tun hat. Wir setzen die Unterhaltung auf unserem Zimmer fort und futtern dabei die Erdbeeren, die er im Basar gekauft hat. Auch ihn, den Spezialisten mit Chancen im vereinigten Deutschland, quält die Existenangst.
Donnerstag 31. Mai: Taschkent
Altstadtbesichtigung. Wir schließen uns einer westdeutschen Reisegruppe an, die von einer Intouristbetreuerin, einer jungen Frau aus Taschkent, geführt wird. Unsere Ziele liegen nahe beieinander: Die (aktive) Moschee, die kein weithin sichtbares Minarett besitzt, die mittelalterliche Medresse Barak Chan auf der gegenüberliegenden Straßenseite, heute der Amtssitz des Großmuftis von Mittelasien und Kasachstan, die islamische Hochschule Imam-al Buchari, das ist die einzige religiöse Ausbildungsstätte für die höheren Ränge des sunnitischen Klerus in der Sowjetunion, und das Mausoleum Kaffal Schaschi, wie die Medresse Barak Chan aus dem 16. Jahrhundert. Nachdem wir aus dem Bus ausgestiegen sind, können wir alle Sehenswürdigkeiten bequem zu Fuß erreichen. Wir müssen uns damit begnügen, einen Blick durch die offenen Portale zu werfen oder allenfalls kurz in einem Innenhof Aufstellung zu nehmen. Die Ausführngen der Intouristfüherin drehen sich großenteils um den Islam, sein spürbares Wiedererstarken und um die mindere Rolle, die er den Frauen erneut zuzuweisen versucht.
Einige Mitglieder der westdeutschen Reisegruppe, die am gleichen Abend die Heimreise antreten wird, nerven uns mit ihrer dümmlichen Selbstzufriedenheit. Zu ihnen gehört ein älteres Ehepaar, das um Kaugummi bettelnde Kinder immer wieder mit Prügeln droht, andere, die sich unterwürfig nähern, beschenkt. Die Kinder, Jungen und Mädchen oft mit geschorenen Köpfen, fordern teilweise recht offensiv. Etwas ähnliches haben haben wir auf unserer Reise bisher noch nicht bemerkt, aber das kann das abstoßende Verhalten unserer Landsleute nicht rechtfertigen.
Die Lehmhäuser der Altstadt sollen verschwinden, abgesehen von einem Rest, dessen Erhaltung als bewohntes Museum geplant ist. Die Umsiedlung der Bewohner in Wohnblocks stellt die Verwaltung vor erhebliche Probleme, weil die Familienverbände darauf bestehen, gemeinsam, beispielsweise in drei benachbarten Etagen eines Wohnblocks untergebracht zu werden. Auf einem kurzen Rundgang durch die Gassen der Altstadt wird die Reisegruppe von drei jungen Frauen eingeladen das Anwesen ihrer Familie, eines der traditionellen, um einen Innenhof gruppierten Lehmhäuser, zu besichtigen, deren Innenleben neugierigen Blicken durch hohe Mauern entzogen ist. Nach den obligatorischen Gruppenfotos (deutsche Mutti mit drei Usbekinnen, etc.) zieht sich der Spuk in den Bus zurück und entschwindet.
Am frühen Nachmittag bringt uns die Metro, die wie in Moskau nur 5 Kopeken Eintritt kostet, mit einmal Umsteigen zum alten Basar, einem Markt für Obst, Gemüse, Gewürze, Kleidung und Schuhe. Dieser nach Angebot und Nachfrage funktionierende Markt ist hinsichtlich Auswal und Menge der bedeutenste, den wir bisher erblickt haben (und dabei wird es bleiben). An frischem Obst fallen diverse Sorten von Aprikosen, Pfirsichen und Kirschen, deneben Himbeeren, Erdbeeren, blauen Maulbeeren ins Auge. Das Gewimmel beschränkt sich keineswegs auf den Platz hinter dem Markttor, sondern füllt noch zwei angrenzende Gassen. Die ethnische Vielfalt ist beeindruckend: Mongolische, iranische, türkische und russische Typen und alle Übergänge. Usbekische Männer tragen tragen häufig eine mit geometrischen Mustern verzierte Leder- oder Stoffkappen, die Tjubeteika; usbekische Frauen sieht man oft in den traditionellen knielangen, bunt gemusterten Kleidern. Ähnlich wie in Achschabad wirken viele Menschen europäischer Abstammung in der brütenden Hitze des Nachmittags ziemlich unglücklich, sie schwitzen unübersehbar und sind nicht im Vollbesitz ihrer Kräfte.
Freitag 01. Juni: Taschkent
In der Fassade des erdbebensicheren Hotels Usbekistan (angeblich ist es Beben bis Stärke 6 auf der Richterskala gewachsen), genauer: In der gleichzeitig als Sonnenschutz ausgelegten Stützkonstruktion aus Stahlbetonelementen, die den Fenstern etwa einen Meter vorgelagert ist, nisten Vögel. Diese Art, die hier so verbreitet ist wie Amseln bei uns zu Hause, kann beinahe singen, aber auch erbärmlich kreischen. Nach Sonnenaufgang, wenn vernünftige Menschen noch schlafen, beschränken sich die braunen Flieger ganz auf`s Gekreische. Die doppelverglasten Fenster sind hier recht lärmdurchlässig, an Schlaf ist nicht mehr zu denken, und ich verwünsche die blöden Biester, die mich geweckt haben.
Um 9:30 Uhr beginnt heute unsere Tour in die Berge, wie immer wenn die Stadtgrenze überschritten wird, mit Intourist, gegen Bezahlung in harter Währung. Unsere Begleiterin ist diesmal eine junge, sehr schlanke, sehr attraktive rothaarige Frau russischer Abstammung aus Taschkent. Leider spult sie ihr Informationsprogramm ohne Unterbrechung ab, ohne sich im geringsten darum zu kümmern, was wir schon wissen und was uns interessiert. So wird aus Verwunderung bald Verärgerung. Auf halber Strecke ist in einer kleinen Ortschaft eine Pause vorgesehen. Programmwidrig verschwinden wir nach kurzer Absprache zwischen den kleinen, von dicht bewachsenen Gärten umgebenen Lehm- und Holzhäusern und entkommen so der Bevormundung für eine halbe Stunde. Wir klettern eine Böschung hinauf und stehen unvermittelt am Ufer eines breiten Kanals mit türkisfarbenen, schnellströmenden Wasser. Eine kleine Herde brauner und schwarzer Schafe wird den Uferweg entlanggetrieben. Von unserem erhöhten Standort haben wir eine prächtige Sicht auf den Ort, die hellgrünen Hügel der näheren Umgebung und dahinter das schneebedeckte Hochgebirge.
Auf der Terrasse eines Teehauses treffen wir unseren gelassenen, gutgelaunten usbekischen Fahrer und unsere nervige rothaarige Gouvernante wieder. Ein paar Schritte entfernt liegen drei Usbeken, auf die Ellbogen gestützt, auf einer mit Teppichen belegten Plattform beim Tee.
Auch unser neuer Fahrer ist nach Landessitte risikofreudig und lenkt den Wolga meist entlang einer dritten, imaginären Fahrspur, haarscharf an entgegenkommenden Autos vorbei. Doch wir haben schon Schlimmeres erlebt und beunruhigen uns nur mäßig. Um 12:30 Uhr sind wir am Ziel, in Tschimgan, einem Kurort mit Erholungsheimen und Ferienlagern der Jungen Pioniere, 90 Kilometer nordöstlich von Taschkent und 1450 Meter hoch in den Ausläufern des Tienschangebirges. Wir handel den Zeitpunkt für die Rückfahrt aus, es bleiben uns ganze zwei Stunden zur freien Gestaltung. Die wollen wir nutzen und wandern deshalb, Intourist am Parkplatz zurücklassend, ein Stück den Hang hinauf, einem Wildbach folgend, der Schmelzwasser von den nur ein paar hundert Meter entfernten Schneeresten abtransportiert. Hoch über uns thront ein schneebedecktes Massiv. Eine Weile riecht die angeblich heilkräftige Luft penetrant nach brennenden Reifen, aber die Gebirgsvegetation ist phantastisch, da vergisst man den Müll, der überall herumliegt. Wir treffen auf unserem Weg auf violette Lilien, roten und gelben Mohn, gelbe, weiße und rosa Heckenrosen, braunviolette Schwertlilien, weißblauen, langstieligen Enzian und viele andere Pflanzen, für die wir keine Namen haben. Könnten wir unsere Zeit selbst einteilen, würden wir wohl bis zum Abend bleiben, doch auf uns wartet der Wolga von Intourist, mit unserer rothaarigen Betreuerin, die inzwischen schweigsam geworden ist.
Samstag, 02. Juni: Taschkent
Den späten Vormittag nutzen wir für Einkäufe. In einem großen Berioska-Laden ohne Kunden finden wir ein paar einigermaßen brauchbare Ansichtskarten von Taschkent (übliche Motive sind moderne Hotel- und Verwaltungsgebäude), aber nur bulgarische Zigaretten für unsere wechsenden Fahrer, die westliche Marken mehr schätzen. Ein großer, gut besuchter Buchladen zieht uns an, dort entdecken wir einen Fotoband mit interssanten, leider schlecht reproduzierten Pflanzen- Tier und Landschaftsaufnahmen aus der Kisylkum-Wüste und dem Amu-Darya-Reservat. Eva kauft außerdem ein Schoti, ein Rechenbrett, das trotz und neben den weit verbreiteten Registrierkassen von vielen Verkäuferinnen blitzschnell, doch für uns nicht nachvollziehbar, angewandt wird. Einen Schulatlas, den wir zu erwerben versprochen haben, finden wir nicht. Vor dem Laden ist an einem Baum ein unscheinbares Plakat mit den Ankündigungen eines Prgrammkinos angeschlagen. Wir haben es bereits am Vorabend studiert, es wirbt für eine Anzahl älterer internationaler Filme, die auch in BRD-Kinos immer wieder gespielt werden: „1984“ nach Orwell, das „Dekameron“, Kubricks „2001 – Odysee im Weltall“, usf.
Da es uns verwehrt ist, das Stadtgebiet ohne Intourist zu verlassen, wollen wir am Nachmittag wenigstens an den Stadtrand gelangen. Wir beabsichtigen mit der Metro bis zu einer Endstation zu fahren und dann einen Bus bis zum Fluß Uzruzk im Südosten des Stadtgebiets zu finden. Leider sind die letzten beiden Metrostationen gesperrt, wir müssen also umdisponieren. Als wir schließlich nach längerer Busfahrt am Ziel sind, einem großen Busbahnhof an der Stadtgrenze, wird uns schnell klar, dass sich die Anstrengung bei 35° Celsius feuchter Hitze nicht gelohnt hat. In Sichtweite sind neue und alte Wohnblocks, heruntergekommene Industriebetriebe und stadtauswärts eine gewaltige Straßenbrücke zu erkennen. Die Flussufer gleichen einer langgestreckten Müllhalde, jenseits des Uzruzk beginnt eine kahle, triste Agrarsteppe. Wir geben aber noch nicht auf, chartern ein Taxi und lassen uns zu einigen nahegelegenen Seen bringen, die wir auf dem Stadtplan entdeckt hatten. Kurz darauf wandern wir am Ufer eines von drei dicht beieinander liegenden Kiesseen. Wir sind im Schwimmbad von Taschkent. Ein Pappelwäldchen gibt einem Restaurant, einem Getränkestand und einer Spießbraterei Schatten. Die Ufer werden sporadisch von ein paar Bäumen gesäumt. Die Gäste sonnen sich meist am Strand, Sonnenbrand ist für den russischen Teil obligatorisch. Hier und da kokeln wilde Müllkippen vor sich hin. In einem Bewässerungskanal, der streckenweise parallel zum Ufer verläuft, quaken Frösche. Auf dem Rücken einer weidenden Kuh ist ein Vogel der Art gelandet, die uns morgens zu wecken pflegt. Frustriert kehren wir zum Eingang zurück, wenig später bringt uns ein Taxi mit einem finsteren, schweigsamen Fahrer zum Hotel zurück. Das Trinkgeld weist der Mann unfreundlich zurück.
Im Hotel hat sich etwas verändert. Der große Speisesaal ist jetzt nur noch für Delegierte des 22. Parteitags der Kommunistischen Partei Usbekistans da. Im kleinen Speisesaal tobt eine riesige Hochzeitsgesellshaft. Wir finden in einem Kabinett des kleinen Saals Plätze. Außer uns sind offenbar nur noch wenige Touristen im Haus. Nach dem Abendessen mischen wir uns in der einsetzenden Dämmerung unter die Flanierenden. Zehn Minuten vom Hotel entfernt, in einer ausgedehnten Brunnenanlage vor dem lnggestreckten Repräsentationsbau der KP, tummeln sich Kinder. Eine junge Mutter hat den Kinderrwagen in das flache Wasser des Brunnenbeckens geschoben. Breite Stufen führen hinauf zum Aufmarsch- und Paradeplatz, größer als der Rote Platz in Moskau. Dort überragt eine überdimensionale Leninstatue eine Nachbildung des Leninmausoleums. Es dunkelt und jetzt flammt die rote Leuchtreklame mit dem Emblem der Kommunistischen Partei in der Mitte auf, die der Fassade des Parteigebäudes als langes Band folgt. Vor dieser Kulisse aus Wasserwänden und in diesem Teil der Welt seltenem Neonlicht lassen sich stolze Eltern mit ihren Sprösslingen fürs Familienalbum fotografieren.
Sonntag 03. Juni: Taschkent
Dieser Tag dient der Rekonstruktion, entsprechend bescheiden fallen die Aktivitäten aus. Mittags löffeln wir unsere Suppe in dem kleinen Raum, der momentan den verbliebenen Touristen zur Verfügung steht. An einem der anderen Tische nehmen drei recht unterschiedliche Personen Platz: Zwei Männer, vielleicht Mitte bis Ende dreißig und eine schwarz gekleidete junge Frau, der wir bereits im Hotel begegnet sind. Die Unterhaltung zwischen ihnen scheint nicht recht in Gang zu kommen. Der mit dem gelockten Haar steht auf, kommt zu uns herüber und bittet, englisch sprechend, um Hilfe. Ein paar Minuten später sitzen wir am Tisch der Drei. Der Hagere mit den Lockenhaaren ist ist Sonderkorrespondent von Associated Press in Paris, der mit den langen zusammengebundenen Haaaren ein Kollege aus Nikosia, Zypern. Die junge Frau, eine schwarzhaarige orientalische Schönheit, möchte Informationen über ein Pogrom an den türkischstämmigen Mescheten in Taschkent weitergeben. Sie ist Betroffene, das Haus ihrer Familie sei vor einem halben Jahr niedergebrannt worden. Kindern, berichtet sie, wurden Hände abgeschlagen, Augen ausgestochen. Die rund tausend Türken in der Stadt, in der Stalinzeit aus Aserbeidschan zwangsumgesiedelt, würden von Angehörigen der usbekischen Bevölkerung verfolgt, hinter den Usbeken ständen Russen. Diese Vorfälle hätten denselben Charakter wie die Ereignisse im Ferghanatal südlich von Taschkent, die vor zwei bis drei Jahren in der Weltpresse Schlagzeilen machten. So etwa schält sich die Geschichte heraus, auf russisch berichtet und von Eva in groben Zügen ins Englische übertragen. Die beiden von der Presseagentur sind am Ende ihrer Reise durch die Sowjetunion angekommen und werden Usbekistan noch am gleichen Abend verlassen und nach Paris bzw. Nikosia zurückkehren. Wir mögen die beiden sofort. Allerdings befremdet uns ihre Arbeitsweise, denn sie reisen, des Russischen unkundig, ohne Dolmetscher, und sie versichern uns vergnügt, dass ihre Recherchen häufiger auf der mehr oder weniger qualifizierten Unterstützung von Zufallsbekanntschaften beruhen. Nur gut, dass wir unsere Illusionen in die Presse schon früher verloren haben. Das Essen der beiden geht überwiegend zurück, denn als typische Mittelklasseamerikaner fürchten sie die hygienischen Bedingungen ihres Gastlandes und schneiden zum Verzehr nur das Innere aus Gurken und Tomaten heraus.
Am Nachmittag besuchen wir das naturkundliche Museum in der Nähe des alten Basars. Es wendet sich mit Darstellungen der Erdzeitalter und der Vererbungslehre vorallem an usbekische Schüler. Die Informationen über Baumwollsorten, Seidenraupenzucht, Bergbau und heimische Biotope mit vielen präparierten Tieren sind von allgemeinem Interesse. Kurz vor dem Ausgang treffe ich einen alten Bekannten: Ziemlich mitgenommen und verstaubt steht er zwischen Verwandten auf einem Holzsockel, Acridotheres tristis, der Myna-Vogel, der morgendliche Ruhestörer aus dem Hotel.
Montag 04. Juni: Taschkent, Abreise
Heute Abend, 18 Uhr lokaler Zeit (16 Uhr Moskauer Zeit, die für alle Fahr- und Flugpläne in der UdSSR maßgeblich ist), werden wir nach Alma-Ata, der Hauptstadt Kasachstans, fliegen. In der verbleibenen Zeit schlendern wir umher, stellen fest, dass das kunsthistorische Museum, wie in den Prospekten angekündigt, montags tatsächlich geschlossen ist, achten darauf, nicht unter die Räder zu kommen. Letzteres ist wörtlich zu verstehen, denn Fußgänger haben in Taschkent sowenig Rechte wie in Moskau oder Achschabad. Autofahrer bremsen nicht wegen Fußgängern, auch nicht an Zebrastreifen und sie kümmern sich nur sehr bedingt um die Signale von Lichtzeichenanlagen. Die nichtmotorisierte Bevölkerung begehrt mitunter auf, eine Art Bürgerkrieg deutet sich an. Die Miliz, die in Moskau noch sichtbar verkehrsregelnd eingriff, scheint in Taschkent kapituliert zu haben. Ab und zu scheitert ein Verkehrsteilnehmer an den brutalen Gepflogenheiten, die Unfallziffern sind hoch.
Der „Transfer“, der Transport im Intouristwagen zum Flughafen, Pflichtbestandteil der Reisebuchung zum mehr als zehnfachen Taxipreis, funktioniert reibungslos. Mit anderen Intouristreisenden warten wir getrennt von sowjetischen Passagieren auf das Bording. Als Letzte bringt uns ein Flughafenbus zur Maschine, einen Iljuschin-Jumbo. Die Crew lässt sich während des einstündigen Flugs nach Alma-Ata kaum sehen. Die Sicherheitsgymnastik, die den Kunden westlicher Fluggesellschaften die Illusion von Rettungsmöglichkeiten vermittelt, gibt es in Aeroflotmaschinen nicht. Das Personal, das hier Dienst tut, benimmt sich so, als wäre es selbst zu Gast.
FORTSETZUNG FOLGT IN DER GALERIE ALMA-ATA/KASACHSTAN
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Montag 04. Juni 1990, Alma Ata/Kasachstan
Es dämmert, die Fahrt vom provinziellen Flughafen zum Hotel führt nicht durch eine Stadt, sondern durch einen ausgedehnten Park mit eingestreuten, ebenerdigen Holzhäusern. Das Areal steigt nach Süden zu den grünen Vorbergen hin an, überragt von beeindruckenden Schneegipfeln. Oberhalb der verstreuten Altstadt liegt das moderne Stadtzentrum.
Im Hotel Otrar schließt das Restaurant, wenn wir dem Aushang trauen, um 23 Uhr (20 Uhr Moskauer Zeit), doch der Rezeption zufolge um 22 Uhr. Eine halbe Stunde vor Schluss gibt es für uns nur noch einen lauwarmen , fettigen Fraß, der vermutlich schon seit Stunden steht. Nach einem kleinen Spaziergang durch einen nächtlichen Park gehen wir hungrig zu Bett.
Dienstag 05. Juni 1990, Alma Ata
Unglücklicherweise liegt das Hotel Otrar dicht an einer vielbefahrenen Straße. Busse fahren in großer Zahl Tag und Nacht ohne Unterbrechung. Die dröhnenden Dieselmaschinen rauben uns den Schlaf und am nächsten Morgen sind wir zerschlagen und übler Stimmung. Im Halbschlaf erkunden wir zu Fuß die Umgebung. Öffentliche Gebäude, Straßen und Wohnblocks wirken besser instandgehalten als gewöhnlich. Alma-Ata hat eine besondere Atmosphäre, vielleicht ein wenig wie eine Kurstadt. Sogar der Straßenverkehr trägt zu diesem Eindruck bei. Abbiegende Fahrzeuge stoppen meist diszipliniert an den Fußgängerüberwegen, es dauert eine Weile bis wir dem Frieden trauen. Unweit unseres Hotels steht in einem gepflegten Park eine auffällige, bunte orthodoxe Kirche. Der „Park der 28 Panfilow-Gardisten“ beherbergt außerdem die „Gedenkstätte des Ruhms“ für die kasachische Einheit, die im Zweiten Weltkrieg vor Moskau einen Durchbruchversuch der Nazitruppen aufhielt, eine pathetische Scheußlichkeit, – und den rotbraunen Holzbau des Musikinstrumentenmuseums. Nicht viel weiter ist es zum Markt. Er hat längst nicht Taschkenter Dimensionen, wirkt aber bei Obst und Gemüse gut sortiert. Die Klagen über die hohen Preise hören wir auch hier. Mittags erhalten wir auf unseren dringenden Wunsch ein Zimmer auf der von der Straße abgewandten Rückseite des Hotelgebäudes. Unsere Stimmung beginnt sich zu heben.
Am Nachmittag laufen wir auf den Leninprospekt, der allmählich spürbar ansteigt, nach Süden und finden linker Hand die Talstation der Seilbahn. Wenig später stehen wir auf der Plattform der Bergstation auf der Anhöhe Kok-Tjube am südöstlichen Stadtrand. Keiner der Fahrgäste verlässt das Stationsgebäude, die Türen sind versperrt. Man schickt sich an vollzählig mit der Gondel wieder hinabzufahren. Auf Evas Frage zeigt uns der Schaffner im letzten Moment einen Weg hinaus. Die Anstrengung lohnt sich für die prächtige Aussicht auf die knapp 5000 Meter hohe Kette des Kungei Alatau und den Pik Talgar. Kolonien von Wochenendhäusern haben sich weit in die Vorberge hineingefressen. Ein Restaurant im Jurtenstil finden wir als Ruine vor, deshalb verlässt niemand die Seilbahn. Auf den Hängen, über die wir uns den Weg zurüc in die Stadt suchen, blühen zwischen halbfertigen Datschen üppig die verschiedensten Blumen, überragt vom Betonturm des Fernsehsenders. Jetzt, am Nachmittag, ist es ungefähr dreißig Grad warm und der Weg zurück ist weit.
Mittwoch 06. Juni 1990, Ausflug von Alma Ata nach Medeo und in die Berge
Den Gipfeln, die wir gestern noch als schneebedeckte Kulisse südlich von Alma Ata bewunderten, kommen wir heute sehr viel näher. Intourist macht´s möglich. Ein Wolga mit kasachischem, perfekt deutsch sprechenden Betreuer und russischem Fahrer bringt uns zum Hochgebirgsstadion Medeo, 17 Kilometer von der Stadt entfernt und 1690 Meter hoch. Üblicherweise würde hier, am Fuß eines mächtigen Erddamms zum Schutz vor Schlamm- und Gerölllawinen, die Fahrt enden. Man besichtigt den „Kasachischen Aul“, eine Ansammlung von Jurten, teils Museum, teils Hotel, teils Restaurant, man kann dort sehr gepfegt im kasachischen Stil speisen und wird danach wieder im Hotel abgeliefert. Für unseren Ausflug ist die doppelte Zeit, das sind sechs Stunden, vorgesehen. Unser Bettreuer, ein hochgewachsener, sportlicher Typ mit mongolischem Gesichtsschnitt, schlägt vor, mit dem Sessellift weiter hinaufzufahren und wir sind einverstanden. Um die eineinhalb Stunden Fußmarsch bis zur Talstation des Lifts abzukürzen, hält unser Begleiter einen Lastwagen an, der sich mit einer Ladung Erdaushub die asphaltierte Piste hinaufquält. Er hat den Fahrer, einen flüchtigen Bekannten, erkannt. Eng im Führerhaus zusammengedrängt sparen wir unsere Kräfte. Die schlanken kasachischen Fichten, angeblich ein Urwald, beginnen gerade zu blühen. Am späten Vormittg ist es windstill und sommerlich warm.
In zwei Etappen befördert uns der Sessellift über Bergwiesen mit auffälligen Blumen, manchmal fast zum Greifen nah, mitunter sehr tief unter uns, schließlich über Schneereste auf zirka 3200 Meter Höhe. Wir befinden uns am Ausgangspunkt für Bergwanderer und Bergsteiger, eben stapft eine Gruppe los, Beginn einer mehrtägigen Tour.
Bevor wir uns mit der faszinierenden alpinen Vegetation eingehender beschäftigen können, drängt unser Begleiter zur Rückfahrt. Etwas verwirrt und widerwillig folgen wir. Auf dem anschließenden Marsch von der Talstation des Lifts nach Medeo berichtet der Intouristbetreuer, der übrigens Geschichte studiert hat, von seinen beruflichen Frustrationen . Er schwört auf die Ankurbelung des Tourismus, doch die örtliche Intouristleitung ist an den Vorschlägen für erweiterte Programme nicht interssiert. Durch Privatinitiativen wie die, in deren Genuss wir gerade noch sind, lässt sich die Ignoranz der Chefs nicht ausgleichen. Er erhält als Berufsanfänger nur 120 Rubel im Monat, ein erbärmlich niedriges Gehalt, das für eine vierköpfige Familie reichen soll. Er lebt als einziger Sohn, der kasachischen Tradition gehorchend, im Hause der Eltern und hat auch zu deren Versorgung beizutragen. Die angekündigten Preiserhöhungen für Grundnahrungsmittel beunruhigen ihn sichtlich. Bald weitet sich das Gespräch auf andere Themen aus. Konflikte zwischen den Nationalitäten gebe es in Kasachstan glücklicherweise noch nicht. Als Ursache der Streitigkeiten in anderen Republiken der UdSSR nennt er die verschlechterte Versorgung mit Konsumgütern. Er beklagt die niedrige Arbeitsmoral, hält die Deutschen in Kasachstan für die besten Arbeiter, leider verließen sie für eine sehr ungewisse Zukunft das Land. Er wiederholt einen Satz, den wir nun schon öfter vernommen haben: „70 Jahre Sowjetsystem sind genug!“ Sein optimistischer Glaube an die Segnungen des Kapitalismus ist durch Gegenargumente der Reisenden aus dem kapitalistischen Deutschland, die am Beispiel der „Dritten Welt“ vermitteln wollen, dass die Rechnung „Kapitalismus ist gleich Reichtum“ nicht zwangsläuig aufgeht, offenbar nicht zu erschüttern. Von einem Historiker mit dem Spezialgebiet sowjetisch-westdeutsche Beziehungen hätten wir uns eine etwas differenziertere Sicht erhoftt. Einen reformierten Sozialismus will er nur, wenn der wie in Schweden ist.
Im Kasachischen Aul endet unser Marsch talwärts, zuletzt knieweich über endlse Stufen im Schutzwall oberhalb von Medeo. In einer Jurte zwischen Apfelbäumem erwartet uns ein Festessen. Um 15:30 Uhr sind wir mit unserem Fahrer verabredet.
Donnerstag 07. Juni 1990, Alma Ata
Die Verabredung für eine nicht ganz legale Fahrt in die kasachische Ebene ist geplatzt. Ersatzweise laufen wir zum Zentralmuseum. Ein protziger, moderner Bau beherbergt ausgesprochen sehenswerte Sammlungen: Knochenfunde prähistorischer Tiere, Versteinerungen, Hinterlassenschaften steinzeitlicher Menschen, Funde aus Ausgrabungen der Kulturen, die in Kasachstan existierten, umfangreiche ethnografische Sammlungen, die das Leben der Nomaden dokumentieren und nicht zuletzt Zeugnisse aus der jüngsten Geschchte, zuum Beispiel aus dem Zweiten Weltkrieg. Das Zentralmuseum der Kasachischen Sozialistischen Sowjetrepublik hat internationales Niveau, misslich ist nur die ausschließlich russische Beschriftung sämtlicher Exponate.
Ein paar Stunden später wandern wir über den ehemaligen Breshnev-Platz, der jetzt Platz der Republik heißt und die lokale Kopie des Moskauer Roten Platzes ist, zum Botanischen Garten. Die Berge sind heute in Dunst gehüllt, aber hier unten hat die Sonne den Hochnebel aufgelöst, die Temperatur beträgt 28 bis 30° Celsius. Wie alle russischen Kolonialstädte aus der Zarenzeit wurde Alma Ata sehr großzügig, mit breiten Straßen und vielen Grünflächen angelegt. Für uns als Fußgänger wird das sinnlich erfahrbar, es ist ein weiter Weg, und weit und breit ist kein Restaurant zu entdecken. Kurz vor dem Ziel führt die Straße über eine unscheinbare Brücke. Der Gebirgsbach der hier fließt, ist ein Opfer sowjetischer Tiefbauingenieure. Das Wasser fällt über betonierte Stufen, die Ufer wurden „ordentlich“ betoniert, man kennt das auch aus Deutschland…
Der Botanische Garten, von Reiseführern lobend erwähnt, ist als solcher kaum zu erkennen. Wäre nicht die Glaskuppel des Tropariums, man wähnte sich in einem ausgedehnten verwilderten Stadtpark. In einem entlegenen Teil des Geländes parkt ein Omnibus. Auf dem Rasen hinter einer Hecke liegt ein Dutzend Abeiter im Gras, schlafend. Bleiben die Rosenrabatten zu erwähnen: Hier konkurieren Rosensträucher verschiedenster Sorten mit dem Unkraut. Personal in weißen Kitteln überwacht neue Kreuzungen.
Des Laufens müde nehmen wir für den Rückweg die betagte Straßenbahn. Fahrscheine gibt es für alle Verkehrsmittel an Kiosken, der Preis beträgt enheitlich 5 Kopeken.
Abends unterhält im Hotel Otrar eine Jazzband die Gäste. De Musiker sind nicht schlecht, vorallem spielen sie mit vertretbarer Lautstärke. Nach den Angriffen auf das Gehör, die uns in anderen Hotels widerfahren sind, empfnden wir Dankbarkeit. Nicht so das übrige, heute fast ausschließlich einheimische Publikum. Erst als die Band ein paar Beatles-Schnulzen auflegt, beginnen einige Paare unbeholfen zu tanzen. Ein anderes Ensemble spielt ein Stockwerk tiefer auf, dass die Wände wackeln. Es ist die Art von Musik, die scheinbar in der gesamten UdSSR am besten ankommt. Man benötigt dafür elektronische Instrumente, viel Sythesizer, die Motive sind von der Folklore beeinflusst, gehörschädigend laut argeboten. Dann kommt Stimmung auf.
Derweilen trifft sich auf der Terrasse des Hotel die Jugend. Sehen und Gesehenwerden ist so wichtig wie bei uns. Augenscheinlich wenden insbesondere die Damen enorm viel Zeit und Energie für das Outfit auf. Die Kosmetikindustrie floriert, jedenfalls herrscht kein Mangel an Kosmetika. Fast alle Frauen machen davon Gebrauch, nicht selten exzessiv. Die stereotypen Klagen über die verschlechterte Versorgung mit Konsumgütern und die ausgelassene Boomtown-City-Stimmung scheinen sich zu widersprechen. Das Vergnügen am Konsum ist jedenfalls unübersehbar.
Freitag 08. Juni 1990, Alma Ata
Es ist ein heißer Vormittag. Mit dem Bus fahren wir für 10 Kopeken pro Person nach Medeo in die Berge. Wir haben Stehplätze in der Nähe eines Fahrscheinentwerters gefunden und so fällt uns die Aufgabe zu, die Tickets, die man uns reicht, zu lochen und zurückzugeben. Da der Bus ziemlich überfüllt ist, müsste jede andere Methode, abgesehen vom Schwarzfahren, versagen. Als wir aussteigen, präsentieren sich die Gipfel des Gebirges vor grauem Himmel. Während wir an einem Grillstand um Fleischspieße anstehen, beginnt es zu regnen. Aus der geplanten Wanderung ohne Intourist, ungestört in der Natur, wird nichts. Wir sitzen in einem schmucklosen Selbstbedienungsrestaurant fest, bis der Regen etwas nachässt. Im Warteraum der Buslinie 6 nach Alma Ata haben sich ene Menge Leute angesammelt. Die Temperatur ist rapid gefallen. Als sich der Bus nähert, stürzen alle gleichzeitig ins Freie um Einzusteigen, versuchen es zumindest. Doch die Panik war verfrüht, der Bus fährt ein Stück weiter, der Fahrer hat Pause. Ein paar Minuten später wird es ernst. Der Fahrer öffnet die Türen und die viel zu große Menge versucht schiebend, stoßend, zerrend, ohne Rücksicht auf Verluste in den Bus zu kommen. Ein entwürdigendes Schauspiel, das wir auf unserer Reise nicht zum ersten Mal erleben. Wir gehören zu den Letzten, die hineingepresst werden, fast alle passen irgendwie in das Vehikel, das völlig überladen die Haltestellen ignoriert. Am Lenin-Palast, einer Kongresshalle, gelangen wir auf die gleiche Art wieder aus dem Bus hinaus und erholen uns ersteinmal auf einer Parkbank von den Strapazen. Kurz darauf holt uns der Regen ein und wir flüchten ins Hotel. Dort erfahren wir an der Rezeption eher zufällig, dass unser Abflug nach Irkutzk, Sibirien, um 12 Stunden vorverlegt wurde, statt im Morgengrauen ist unsere Ankunft in Irkutzk nun am Nachmittag vorher vorgesehen.
FORTGESETZUNG IN DER GALERIE LISTWJANKA/BAIKALSEE
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Freitag 25. Mai 1990: Von Moskau nach Achschabad (Turkmenien)
Der Wecker reißt uns Viertel vor sechs aus dem Schlaf. Für unser Frühstück aus süßen Stückchen und Pulverkaffee haben wir am Vorabend selbst gesorgt. Die Etagenfrau im Hotel Rossija ruft das Taxi und kurz darauf sind wir auf dem Weg zum Flughafen Domodedovo. Der Weg dorthin beträgt etwa 50 Kilometer; er führt, nachdem wir die Trabantenstädte hinter uns gelassen haben, durch Weiden und Laubwälder. Zehn Rubel kostet diese Fahrt, ein Bruchtei dessen, was für wir den „Transit“ mit Intourist zu entrichten hatten. Der teure Gutschein verfällt.
Domodedovo bedient die innersowjetischen Langstrecken. Die Flughafengebäude besitzen wenig Ähnlichkeit mit dem moderen, aufgeräumten Scheremetjewo 2, sie wirken desolat, zerbröckeln bereits. Wir orientieren uns an der Anzeigetafel und warten zusammen mit europäisch, türkisch und mongolisch wirkenden Fluggästen. Etliche scheinen vom Land zu kommen, manchen haftet Stallgeruch an. Als der Schalter öffnet, werden wir sogleich zum Intouristbüro geschickt, denn das staatliche Monopolunternehmen hat alle nichtsowjetischen Reisenden zu betreuen. Mit einem Bus gelangen wir zu einer weiteren Abfertigungshalle. Hier herrscht das Chaos. Die Schalter sind nicht gekennzeichnet und Passagiere verschiedener Flüge drängen sich gleichzeitig, bepackt mit zahlreichen sperrigen Koffern und Schachteln, nach vorn. In dem Durcheinander gelingt es uns nur mühsam, uns bemerkbar zu machen, und so ziemlich als Letzte kommen wir durch die Gepäckkontrolle und zum Bus zu der dreistrahligen Tupolew 154. Leider sind die Mitreisenden an der Landschaft nicht interessiert, die Fenster der Maschine werden erbarmungslos abgedunkelt. Meine Sitznachbarin reist mit ihrer kleinen Tochter auf dem Schoß. Später teilen wir uns ein Tablett, es ist verdammt eng. Ein alter Mann aus Turkmenien beschenkt die Kleine und auch uns mit getrockneten Aprikosen und gerösteten Mandeln aus seinem Reiseproviant.
Mit einer halben Stunde Verfrühung landen wir auf dem Flughafen von Achschabad, der Hauptstadt Turkmeniens. Es ist gleißend hell und heiß, von der Karakumwüste weht ein trockener Wind herüber.
Während wir noch auf das Gepäck warten, spricht uns ein Intourist-Mitarbeiter an. Der PKW für den „Transit“ zum Hotel Achschabad steht, anders als in Moskau, schon bereit, und auf der Fahrt dorthin erfahren wir Einzelheiten des örtlichen Intourist-Programms. Unser Zimmer im 5. Stock ist eine herbe Enttäuschung. Das Hotel, Ende der Sechziger gebaut, ist eine Ruine. Die spartanische Einrichtung des Raums ist vernutzt, verschlissen, verschmutzt. Immerhin funktioniert die Toilettenspülung, das kalte und warme Wasser und eine Leuchtstoffröhre an der Decke. Das Badezimmer stinkt, die Türe dorthin klemmt und lässt sich nicht ganz schließen, der Türrahmen ist feucht und vom Holzschwamm zerfressen. Von der Decke bröselt der Anstrich. Die Reste des Teppichbodens starren vor Schmutz, stellenweise haben sie sich von der Unterlage abgelöst. Vom Balkon geht der Blick auf die Hauptstraße von Achschabad; es wird eine laute Nacht werden.
Das Intouristprogramm wirkt nicht uninteressant, aber die Preise sind hoch: Ausflug zum „unterirdischen See“ (89 US-Dollar) oder in eine „Bergschlucht“ (32,50 US-Dollar), Stadtrundfahrt, Besuch des Botanischen Gartens, des Museums für Bildende Kunst, des Historischen Museums oder der Ruinen von Niša (je 21,50 US-Dollar). Die Preise gelten für zwei Personen, Intourist stellt einen PKW mit Fahrer und einen deutschsprachigen Betreuer bzw. Dolmetscher.
Nachdem uns klargeworden ist, dass der Zustand unseres Zimmers keine Ausnahme ist, finden wir uns damit ab. Wir unternehmen einen ersten Spaziergang in die Stadt. Die Straßen sind schachbrettartig angeordnet, breit, gesäumt von doppelten, mitunter drei Baumreihen. Zwischen Straße und Gehsteig sind offene Bewässerungsrinnen aus Betonfertigteilen verlegt, die Aryks. Das Wasser aus den Gräben verdunstet und erzeugt bei über 30°Grad Celsius ein schwül-heißes Kleinklima. Wir schwitzen. Überall begegnen wir Mädchen und Frauen in knöchellangen, meist einfarbigen Kleidern in leuchtendem Purpur, Weinrot, Dunkelblau und Grün. Alle tragen bunte Kopftücher. Die Gesichtszüge sind sehr unterschiedlich, wirken türkisch, iranisch oder mongolisch. Jungen und Männer legen keinen Wert auf traditionelle Kleidung, mit Ausnahme von ein paar Alten mit überdimensionalen zotteligen Schaffellmützen. In den Hauptstraßen sind Getränkeautomaten aufgestellt, ein Glas kostet drei Kopeken. Man spült eines der beiden Gläser über einer kleinen Wasserfontäne, füllt es dann mit Limonade, trinkt aus und stellt es wieder an seinen Platz. Wir entdecken ein Restaurant mit Teeausschank. Gläser, Tische und Stühle sind reichlich schmutzig, der heiße grüne Tee belebt. Getrennte Abteilungen für Männer und Familien, wie wir es ein Jahr zuvor in der Türkei kennengelernt haben, gibt es hier nicht.
Für 19 Uhr hat Oleg, einer der Intouristbetreuer, das Abendessen im Hotel Achschabad reserviert. Als Getränk bietet die Kellnerin ausschließlich Sekt an, Wein, Bier und sogar Pepsicola gibt es nicht. Schließlich erhalten wir einen Krug eines gekühlten, sehr wohlschmeckenden Fruchtsaftgetränks, das beinahe auf jedem Tisch steht. Während wir die ersten Bissen zu uns nehmen, legt die Band infernalisch laut mit Evergreens los und jegliche Unterhaltung ist wirksam unterbunden. Am größten Tisch des Restaurants feiert eine Hochzeitsgesellschaft.
Samstag 26. Mai 1990, Achschabad
Das war ein gelungener Tag. Frühstück nach 9 Uhr mit Graubrot, Käse, Quark und einer undefinierbaren Marmelade. Dann gemächlich zu Fuß durch die Stadt zum Botanischen Garten am Westrand von Achschabad. Unterwegs begegnen wir einer turkmenischen Hochzeit, mit viel Gehupe fährt die Gesellschaft, auf etliche Autos verteilt los, aus den Fenstern hängen bunte Tücher. Der ausgedehnte Botanische Garten (Eintritt 20 Kopeken) hat mit den uns bekannten Einrichtngen gleichen Namens nur bedingte Ähnlichkeit. Eine Übersichtstafel am Eingang weist Sektionen mit Pflanzen bestimmter Länder aus, aber der erste Eindruck ist der einer homogenen, durchaus reizvollen Wildnis. Unter den Büschen wachsen besonders große, runde, gelbblühende Walderdbeeren, leider schmecken sie fad und werden nur selten gegessen. Auf einer Bank im Schatten sitzend lassen wir die Umgebung auf uns wirken. In etlichen Bäumen und Sträuchern sind Pappeschilder mit den lateinischen Namen befestigt, darunter und dazwischen wächst was wachsen will. Viele uns unbekannte Vögel sind kurz zu erblicken, meist nur zu hören. Auf unserem Weg gelangen wir dann zu einer kahlen, sandigen Lichtung, auf der sich lediglich ein paar bescheidene blattlose Sträucher verteilen. Die Schilder bestätigen unseren Verdacht: Wir sind in der turkmenischen Abteilung auf den weißen und schwarzen Saxhaul gestoßen, Sträucher der Karakorum- und Kysilkumwüste. Während wir noch über diese Entdeckung staunen, kommt eine Familie daher und ein etwa fünfjähriger Knabe ruft beim Anblick der turkmenischen Charakterpflanzen entsetzt „plocha!“ (hässlich!) aus. Nur an wenigen der Saxhaulsträucher finden wir die winzigen, rötlichen Blüten, häufiger die eigenartgen Knäuel der roten oder gelben Früchte. In den Zweigen turnen große graugrüne Käfer. Im Ostteil des Parks ist das Palmenhaus, davor eine Rabatte mit prächtigen, gelb und rot blühenden Opuntiensträuchern. Etliche weitere Gewächshäuser dienen der Zucht von Schnittblumen wie Gladiolen, Nelken und Aronstab, keine typische Aufgabe für einen Botanischen Garten. Auf dem Rückweg zum Eingang passieren wir drei Becken mit rosafarbenen, roten und gelben Seerosen, dazu gelben Teichrosen. Fette grüne Frösche quaken und verstummen beim Näherkommen. Im Wasser schwimmen tausende kleiner Fische, Gambusen aus der Verwandtschaft der lebendgebärenden Zahnkarpfen. Als wir den Botanischen Garten verlassen ist es 14 Uhr und wir sind hungrig. Die Türsteherin eines nahegelegenen Hotelrestaurants weist gebieterisch russische Gäste vor uns ab und damit ist diese Idee im Keim erstickt. Ein paar Schritte weiter finden wir ein turkmenisches Restaurant mit Garten. Die Bezeichnung Café ist irreführend. Man stellt sich vor einen Tresen in der Küche an und hat die Wahl zwischen einer Brotsuppe mit Hühnerbrühe und Pilav mit etwas Rindfleisch und Karotten. Die Portionen schöpft die Köchin aus riesigen Kesseln. Sie kassiert einen Rubel pro Portion. Ohne die Kanne grünen Tees würde mir der Pilav bei dieser Hitze im Hals steckenbleiben. Uns beeindruckt, in welch schweinischem Zustand Einheimische, besonders männliche, turkmenische Jugendliche, die Tische verlassen und schließen daraus, dass die häusliche Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau noch sehr unterentwickelt sein dürfte.
Eine halbe Stunde später ereichen wir den privaten Markt, hier Basar genannt. Das Angebot ist reichhaltig, aber gemessen am Durchschnittseinkommen teuer. Es gibt Kartoffeln, Rote Beete, Spinat, Maulbeeren, Äpfel, Kräuter, Auberginen, Walnüsse, Haselnüsse, Tomaten, Gurken, Paprika, getrocknete Aprikosen, Rosinen, Geflügel. Alles wird sorgsam zur Schau gestellt, Gemüse und Geflügel besprengt man von Zeit zu Zeit mit Wasser. Am Ausgang parkt ein Tankanhänger und am Ventil sitzt ein Verkäufer und schenkt eine dunkelbraune Flüssigkeit in Gläser und Maßkrüge ein. Der Andrang ist enorm, wir stellen uns an.
Das Hotelrestaurant lässt heute nur Gäste mit Reservierung ein, wir gehören dazu. Heute ist sowohl Mineralwasser als auch Pepsicola erhältlich, aber nicht das köstliche Fruchtsaftgetränk vom Vortag. Wir probieren den Sekt, der hier so reichlich genossen wird und aus Aserbeidschan kommt. Das Essen ähnelt dem des Vorabends, schmeckt aber vorzüglich. Bevor die Brachialmusiker losdonnern, was offenbar nur ein paar Ausländer stört, flüchten wir aus dem Saal.
Sonntag, 27. Mai, von Achschabad zum Barcharden-See
Um 10 Uhr vormittags holen uns die Dolmetscherin von Intourist und ein Fahrer mit einem beigen, etwas betagten Wolga vom Hotel ab. Unser Ziel ist der „unterirdische See“ aus dem Intourist-Programm, der Barchardensee in der Nähe des gleichnamigen Orts, etwa 100 Kilometer nordwestlich von Achschabad im Kopetdaggebirge. Die Fahrt führt die meiste Zeit am Karakumkanal entlang, der die landwirtschaftlich genutzten Flächen am Fuß der Berge bewässert. Am Straßenrand fallen rote, orange, gelbe und grüne Tamariskensträucher auf. Am Fuß des Kopetdag erkennen wir die Befestigungen der sowjetisch-iranischen Grenze, die dem Anschein nach gut bewacht wir. Die Soldaten der sowjetischen Grenztruppe erinnern mit ihren breitkrempigen Hüten und den hellen, sandfarbenen Uniformen an amerikanische Pfadfinder.
Der Fahrstil unseres turkmenischen Fahrers verdient die Bezeichnung „kompromisslos“. Der Tacho zeigt 80, doch unserem Gefühl nach fahren wir zeitweise gut 100 Stundenkilometer, zu schnell für die Straße. Er überholt gutgelaunt auch bei Gegenverkehr, wir könnten die entgegenkommenden Wagen mit der Hand berühren. Bei einer Bodenwelle hebt unser Wolga ab, wir knallen mit den Köpfen an den Himmel, aber es bleibt beim Schrecken. Unsere Intouristbegleiterin scheint sich nicht zu fürchten. An einem Abzweig bremst unser Chauffeur im letzten Moment heftig und biegt mit kreischenden Reifen ab. Kurz darauf erreichen wir einen Parkplatz am Fuß eines Felsrückens und sind am Ziel. Mit Hilfe von Intourist passieren wir den umlagerten Eingang zur Höhle, unsere Begleiter bleiben hier zurück, und wir laufen die kaum beleuchtete Treppe zum unterirdischen See hinab. Hier sind wir alles andere als allein. Am Geländer einer Terrasse lehnen Frauen und Männer in Badekleidung, im vorderen Teil des Sees, der lang und schmal und tief eine gewaltige Felsspalte ausfüllt, planschen einige Dutzend Badegäste. Niemand schwimmt weit hinaus, die fast vollständige Finsternis hält davon ab. Wir können dem Treiben nicht viel abgewinnen und machen uns bald wieder an den Aufstieg. Erst jetzt wird uns bewusst, welch tropische Schwüle hier herrscht. Das Mineralwasser des Sees ist bis zu 37°C warm. Im Dämmer des Höhleneingangs schauen wir eine Weile den Spatzen, Tauben und Fledermäusen zu, die hier nisten. Wir drängen uns ins Freie und die Bewacher am Tor zur Höhle Kor-Ata (Vater der Höhlen) lassen neue Gäste ein.
Mit mehreren PKWs ist eine turkmenische Hochzeitsgesellschaft auf dem Platz vor der Höhle eingetroffen und stellt sich zum Gruppenbild auf. Die total verschleierte Braut wirkt stocksteif in ihrer Prachtkleidung. Die Frauen tragen die typischen bunten, knöchellangen, turkmenischen Kleider, an den Männern fallen am stärksten die ausladenden weißen oder schwarzen Schaffellmützen auf. Die Gesellschaft gruppiert sich alsbald zu zwei Kreisen, traditionelle Musik plärrt aus mitgebrachten Lautsprechern, Frauen und Männer tanzen getrennt. Aber nicht lang, nach ein paar Minuten ausgelassenen Treibens steigen sie wieder in die Autos, die Männer teilweise reichlich betrunken, und verschwinden in der Wüste.
Die Turkmenen sprechen dem Wasser des unterirdischen Sees heilkräftige und fruchtbarkeitsfördernde Wirkungen zu, so wurde uns erzählt. Doch die Hochzeitsgesellschaften, die an den Wochenenden zahlreich hierher kommen, nutzen den Berg mit der Höhle heute nur noch als Kulisse für ein paar Fotos, die Brautleute steigen nicht mehr ins Bad.
Zurück im Hotel setzen wir das Gespräch mit unserer Intourist-Betreuerin fort. Sie versichert uns unter anderem, dass die Nationalitäten in Turkmenien friedlich zusammenleben, sich bereits erheblich vermischt haben und ein Aufbrechen von Konflikten wie zwischen Armeniern und Aserbeidschanern nicht zu befürchten ist. Wir hoffen, sie möge recht behalten.
Am Nachmittag besuchen wir das historisch-ethnografische Museum von Achschabad. Die Exponate stammen zum größten Teil von Ausgrabungen in Nis. Die Sammlungen wirken sehr gepflegt und die Präsentation ist professionell. Wir erhalten eine Führung in deutscher Sprache. Durch den Saal mit deutschen Beutestücken der Sowjetarmee, sowjetischen Waffen und Propagandaplakaten aus dem großen vaterländischen Krieg möchte uns die liebenswürdige Führerin möglichst schnell hindurchlotsen, wohl aus Rücksicht auf die Gefühle der westdeutschen Gäste. Doch wir haben sehr viel Verständnis für diesen Raum. Erst vor drei Wochen wurde eine Ausstellung über den Islam in Turkmenien eingerichtet. Dies fügt sich in die Bemühungen ein, den nationalen Besonderheiten, inklusive Religion und Sprache mehr Raum zu geben. Beispielsweise lernen russische Kinder auch turkmenisch. Auch wurde beschlossen in Achschabad eine Moschee zu bauen.
Beim Abendessen im Hotel erwartet uns eine Überraschung. An unserem Tisch nehmen zwei Herren aus der DDR Platz, Angestellte einer großen Landmaschinenfirma. Wir kommen ins Gespräch, über die Sowjetunion, die beiden sind viel herumgekommen, und schließlich über die Einverleibung der DDR durch die BRD. Wir freuen uns aufrichtig DDR-Menschen kennenzulernen, die den Fehlern des Westens ebenso kritisch gegenüberstehen, wie denen des Realen Sozialismus. Am Mittwochmorgen werden wir einen der beiden wiedertreffen, in der Maschine nach Taschkent.
Montag 28. Mai, von Achschabad zur „Bergschlucht“
Um 10 Uhr treffen wir uns mit Schenja vom Intourist-Team in der Hotelhalle. Unser Fahrer vom Vortag fährt pünktlich vor. Das Ziel ist heute die „Bergschlucht“, in Wahrheit eher ein enges Tal in den Vorbergen des Kopetdag südwestlich von Achschabad im militärischen Sperrgebiet entlang der iranischen Grenze. Am Stadtrand passieren wir ein weites Areal, auf dem der neue Botanische Garten entsteht. Diesmal befragen wir unsere Begleiterin besonders ausgiebig nach Flora und Fauna; Schenja ist unserem Wissensdurst gewachsen. Wir hören (und sehen), dass das Kopetdaggebirge durch Menschenhand völlig baumlos ist und können nicht begreifen, dass angesichts der Wasserknappheit in Turkmenien keine Anstrengungen zur Wiederaufforstung und damit zur Klimaverbesserung unternommen werden. Die Bewässerung durch den Karakumkanal erscheint uns angesichts des austrocknenden Aralsees jedenfalls nicht als der Weisheit letzter Schluss. Von der Straße hat man eine gute Aussicht auf die Oase Anaus mit den Ruinen der antiken Stadt Niš.
Wir fassen es nicht, aber unser Fahrer gibt heute noch mehr Gas als gestern. Während wir die kurvige Gefällestrecke hinabjagen, überschlagen wir im Geiste unsere Überlebenschancen und kommen auf keinen sehr hohen Wert. Aber bald können wir aufatmend aussteigen. Unsere Begleiterin billigt uns eineinhalb unbeaufsichtigte Stunden zu. Während sie sich mit dem Fahrer beim Restaurant in den Schatten setzt, erkunden wir den üppigen Galeriewaldsaum im Talgrund. In den ruhigen Buchten des schnellfließenden Baches leben beachtlich große, grüne und braune Frösche; ihr durchdringendes Quaken ist noch an den Berghängen zu vernehmen.
Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Entlang eines schmalen, trockenen Seitentals führt ein Pfad steil in die kahlen, steinübersäten Hänge. Heiße Luft flirrt über grauen und ockerfarbenen Felsen. Ein Blick auf die Uhr macht den weiteren Aufstieg illusorisch. Am Umkehrpunkt bleiben wir eine Weile stehen und entdecken nun verschiedene Vögel, Echsen und in einiger Entfernung ein bepelztes Tier, das vielleicht ein Schakal oder ein Fuchs ist. Unter uns schlängelt sich der Laubwaldstreifen, der den Bach, das Restaurant und unsere Betreuer verbirgt, wie ein grüner Wurm.
Punkt 12 Uhr sind wir zurück, unsere Intourist-Begleiter erwarten uns schon ungeduldig. Aus dem fahrenden Auto erkennt Schenja eine Schlange, die gerade die Straße überquert. Der Fahrer stößt zurück und wir sehen eine Levanteotter im Gebüsch verschwinden.
Die Intourist-Exkursionen sind für unseren Geschmack viel zu kurz. Wir wollen am Nachmittag in die Oase Anaus – und zwar ohne Aufpasser. Die Fahrer der Taxen, die wir stoppen, begreifen unseren Wunsch nicht oder geben uns zu verstehen, dass sie den Auftrag nicht akzeptieren. Anaus liegt außerhalb der Stadtgrenzen von Achschabad und ist unsere Visa nicht eingeschlossen. Sieht man uns das an? Ziemlich wütend geben wir schließlich auf. Wir wissen jetzt, dass wir Anaus entweder als zahlende Gäste von Intourist besuchen werden – oder gar nicht.
Dienstag 29, Mai: Wüstenforschungsinstitut in Achschabad
Um 10:45 Uhr sind wir mit Lenja von Intourist verabredet. Gemeinsam gehen wir den kurzen Weg vom Hotel zum Wüstenforschungsinstitut. Unser Interesse an dieser Einrichtung, die seit 1962 existiert, hat Lenja aufgegriffen und kurzerhand ein Gespräch mit dem Institutsleiter und einem Mitarbeiter vermittelt. Wir wissen das zu schätzen, sind aber auch ein wenig unsicher. Der Stellvertreter des Chefs empfängt uns am Eingang und geleitet uns in einen Hörsaal. Als Einführung bekommen wir einen Videofilm mit englischem Ton über die Auswirkungen des Karakumkanals und die Arbeit des Instituts zu sehen. Dann erscheint der Direktor und nach der Begrüßung bilden wir zu fünft eine Gesprächsrunde. Wir stellen unsere Fragen, Lenja übersetzt und einem Mitarbeiter des Instituts obliegt es, Protokoll zu führen. Wir wollen vorallem wissen, ob die Karakumwüste noch wächst, ob Alternativen zur Wasserversorgung durch den Karakumkanal realisiert werden, ob an die Wiederaufforstung des Kopetdaggebirges gedacht wird. Teilweise zielen unsere Fragen am Arbeitsbereich und der Ausrichtung des Wüstenforschungsinstituts vorbei und wir werden an die zuständigem Institutionen verwiesen. Das der Karakumkanal dem Amu-Darja-Fluss viel Wasser entzieht und so zur Austrocknung des Aralsees erheblich beiträgt, wird nicht bestritten. Auch ist die Bodenversalzung durch Bewässerung von Wüstenböden bestens bekannt. Die Wüste wächst, Folge von Überweidung und Dünenwanderung. Durch Landwirtschaft und Großprojekte, wie z.B. den Bau von Bewässerungssystemen und Industrieansiedlungen, werden Tiere und Pflanzen dezimiert. Das Institut experimentiert mit neuen Futterpflanzen, arbeitet an Projekten zur Dünenbefestigung und zur landwirtschaftlichen Nutzung von Wüstengebieten; es untersucht die Auswirkungen menschlicher Eingriffe in die Wüste und unterhält ständig besetzte Forschungsstationen im Repetek- und im Nepidag-Naturreservat, daneben mehrere zeitweilig besetzt Stationen. Seit 1979 hat das Institut die Leitung des berühmten Nepetek-Parks. Schließlich bewirbt sich das Institut um Forschungsprojekte staatlicher Stellen der Sowjetunion und macht im internationalen Rahmen Auftragsforschung, etwa für Auftraggeber in Lybien, Algerien, China und den USA. Wir sind ehrlich beeindruckt.
Nach einer guten Stunde glauben wir die Zeit der Institutsleitung und unserer perfekten, meist simultan übersetztenden Dolmetscherin genügend beansprucht zu haben und leiten den Abschied ein. Doch jetzt stellt sich heraus, dass man auch an uns Fragen hat. Reisen Sie im Auftrag einer Umweltschutzorganisation? (Nein, privat). Wie ist das mit den Grünen in der BRD? (Verbürgerlichte Umweltschutzpartei auf dem absteigenden Ast). Was halten Sie von der Fusion der beiden deutschen Staaten? (So, wie es läuft: Nichts! Einem demokratischen Sozialismus in den Grenzen der DDR hätten wir entschieden den Vorzug gegeben). Ein intensives Gespräc entwickelt sich dann über den Aufbau und die Funktionsweisen der Umweltschutzbehörden in der BRD. An dieser Stelle kommt die Sprache natürlich auch auf das Umweltamt der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden, in dem ich arbeite. Unsere Gesprächspartner sind erstaunt über die Kontrollrechte und Gestaltungsmöglichkeiten kommunaler westdeutscher Umweltbehörden. Um die Situation nicht zu rosig darzustellen, betonen wir die Bedeutung des Umweltbewusstseins der Bevölkerung und der unabhängigen Umweltschutzinitiativen, Faktoren, die konsequenten Umweltschutz durch die Verwaltungen erst legetimieren. Großes Interesse zeigt man auch an den Folgen der Einwanderung Deutschstämmiger in die BRD und in diesem Zusammenhang an der Abwanderung der Deutschen aus der Sowjetunion, die schwer zu schließende Lücken aufreißen würde. Wir werden nach den Wohnungsmieten zu Hause gefragt und unsere Antwort (30 bis 60 % des Einkommens) erstaunt. Am Ende überreicht man uns zwei Medaillen des Wüstenforschungsinstituts, wie sie in der UdSSR so gern und zahlreich an der Brust getragen werden, als Andenken. Es ist ein herzlicher Abschied.
Nachmittags erfahren wir, dass unsere Fahrt nach Anaus, der Schenja von Intourist an diesem besonders heißen Tag ohne Begeisterung entgegengesehen hatte, wegen eines PKW-Defekts ausfällt. Ersatzweise laufen wir bei 35°C im Schatten in den ärmeren Stadtvierteln, im hügeligen Teil im Süden von Achschabad, herum, finden die Baustele der Moschee und landen schließlich im Zoo, einem besonders engen und teilweise verwahrlosten Tiergefängnis. Eine Schulklasse hat sich vor den Käfigen verteilt und die Kinder, vielleicht 12 bis 14 Jahre alt, malen mit großem Geschick Aquarelle von den Tieren.
Zurück im Hotelzimmer schlagen wir die letzte Schlacht mit den Kakerlaken – morgen fliegen wir nach Taschkent. Mir ist übel, das letzte Glas Kwas oder sonst etwas ist mir nicht bekommen und auch der grüne turkmenische Tee, den die Etagenfrau für uns kocht, kann daran nichts ändern.
Mittwoch 30. Mai 1989: Flug von Achschabad nach Taschkent
8:15 Uhr, Schenja begleitet uns zum Flughafen. Wir hoffen, dass wir sie und ihre Kollegin Lenja eines Tages in Frankfurt begrüßen können. Eine Stunde später startet die Tupolew 154, pünktlich wie immer.
FORTSETZUNG FOLGT in der Galerie Taschkent/Usbekistan
21
Eine Reise in die Sowjetunion – Reisenotizen Mai und Juni 1990
Prolog: Das Frankfurter Büro von Intourist bedindet sich im Zentrum, unweit der Zeil, in der Stephanstraße. Dies herauszufinden war nicht schwer. Nicht so einfach war es hingegen, in dieses Büro hineinzugelangen. Denn immer, wenn wir hier vorbeikamen, fanden wir es veblüffenderweise verschlossen vor, selbst zur besten Geschäftszeit.
Heute, an einem trüben, nasskalten Vormittag im Januar, würde es gelingen. Der Pförtner am Nachbarportal hatte uns das Geheimnis verraten.
Welcher Beschäftigung der Herr von Intourist auch immer nachgegangen war, auf den Anruf des Pförtners eilt er herbei, ein mittelgroßer, untersetzter, silberhaariger Mann im eleganten, grauen Anzug.
Nun, das Intouristangebot an Reisen in die Sowjetunion ist schnell erklärt, die wenigen Prospekte sind im Nu verteilt. Keine Reise länger als zwei Wochen? Der Herr von Intourist reagiert erstaunt, beinahe schockiert. „Was wolle Sie denn länger als zwei Wochen in der Sowjetnion?“ Unser Unverständnis beginnt ihn ärgerlich zu machen, ungeduldig wippt er auf den Zehen, vielleicht denkt er an die Tätigkeit, bei der wir ihn unterbrochen haben.
Da wollen wir ihn nicht länger stören.
Sonntag 20. Mai 1990: Von Frankfurt nach Moskau
Flughafen Frankfurt am Main. Ein Bus bringt uns vom Warteraum zum Flugzeug. Wir sind eingekeilt zwischen den unterschiedlichsten Reisegruppen, Gefolgschaft ihrer Reiseleiter. Wir: Eva (32) und ich (39) sind auf diesem Flug nach Moskau die Ausnahme, den wir sind „Individualtouristen“ oder „Individuals“, wie uns die Leute von Intourist und das Hotelpersonal in den nächsten vier Woche nennen werden. Man lässt uns bei einer stattlichen, vierstrahligen Aeroflot-Maschine aus dem Bus steigen, einer Iljuschin, dem sowjetischen Jumbo. Gepäckidentifikation. Die Reise kann beginnen.
Der Landeanflug führt über Wälder und gewundene Flüsse mit Passagierdampfern. Wir kommen auf Scheremetjewo 2 an, einem ganz normalen, internationalen Flughafen. Zwischen Gepäckband und Zoll sind Gepäckwagen zu haben, aber nur gegen einen Rubel das Stück. Rubel, die man an dieser Stelle noch nicht haben darf. Also tragen wir unsere Taschen und Koffer. Der Zoll fertigt zügig ab. Ein flüchtigrer Blick in die Fototasche, die beiden Kameras sind in der Zollerklärung nachzutragen. Reiseleiter von Intourist suchen ihre Schützlinge, sprechen uns an, doch wir stehen nicht auf ihren Listen.
Wir mussten einen ziemlich teuren „Transit“ vom Flughafen zum Hotel buchen und den wollen wir nun wahrnehmen. Intourist schickt uns zur Information, die Information telefoniert mit dem Moskauer Büro unseres Reiseveranstalters Olympia, schickt uns daraufhin wieder zum Intouristschalter. Dort wird dann widerwillig ein Taxifahrer außerplanmäßig beauftragt, uns zum Hotel Rossija zu bringen. Mit einem klapprigen Wolga geht die Fahrt im Höllentempo ohne Zeichengebung, alle drei Richtungsfahrbahnen nutzend, erst durchs Grüne, dann durch schäbige Vorstädte, schließlich ins Zentrum von Moskau. Das Hotel Rosija (Russland) ist ein gewaltiger quadratischer Bau mit Innenhof und aufgesetztem Turm. Unser Zimmer liegt im 10. Stock, Ostflügel. Dort angekommen ändert die Etagenfrau den Hotelausweis: 7. Stock, Nordflügel. Etwas konfus schleppen wir unser Gepäck den Umweg über den Südflügel. Das Zimmer: Brauchbar, aber etwas schäbig, abgenutzt.
Nach dem Geldwechseln (200 DM, gut 600 Rubel werden für 4 Wochen reichen) machen wir uns auf die Suche nach einem Abendessen. Die Suche führt uns in ein Restaurant im 2. Stock, Ostflügel. Niemand bewacht den Eingang, wir setzen uns und werden von allen Bedienungen ignoriert. Eine Kombo spielt Kitsch, es wird getanzt, ein paar kleinere Gesellschaften lärmen gutgelaunt. Die Männer wirken ziemlich grau in ihren Anzügen, was man von den Frauen, oft in sexbetonter Ausgehkleidng oder im Discodress, angesichts üppiger Figuren recht gewagt, nicht behaupten kann. Wir geben auf, fahren in das Nobelrestaurant im 21. Obergeschoß. Am Eingang werden wir abgewiesen, betreten mit anderen Gästen dennoch das Restaurant, tragen wechselnden Kellnern unseren Wunsch nach Bewirtung vor und warten. Die Mühe lohnt sich, wir erhalten schließlich enen Tisch mit Blick auf die Moskwa und kurz darauf werden Speisen aufgetragen, von denen wir nicht genau wissen, ob wir sie bestellt haben: Etliche Schüsselchen und Teller mit geräuchertem Fisch, verschiedenen Wurst- und Bratensorten, Kaviar, süßsauer eingelegte Birnen, Weiß- und Schwarzbrot, zuviel für zwei Personen unserer Art. Mit Sicherheit ausgewählt haben wir nur den Wein, Rotwein von einer moldawischen Sowchose. Pepsicola und Mineralwasser, bereits geöffnet, sind ergänzende Pflichtgetränke. Im 21. Geschoß, im Turmrestaurant, herrscht verschärfte Discostimmung. Falls gewagtere Outfits der Damen registriert werden, geschieht es ohne äußere Anzeichen. Dann kommt die Rechnung: 95 Rubel, etwa die Hälfte eines sowjetischen Monatsgehalts, ein Preis, den wir hinfort stark unterschreiten werden. Etwas angeheitert von dem ausgezeichneten Rotwein gehen wir Schlafen
Montag 21. Mai 1990
Bedauerlich, das Frühstück muss bis 8.30 Uhr angetreten werden. Am Büfett – Zutritt nur für Olympia-Kunden – ist reiche Auswahl, darunter ausgezeichnete Butter, feiner Quark, Pfannkuchen, Zwetschgensaft. Unter den Gästen sind viele Geschäftsreisende, Westdeutsche, Österreicher, US-Amerikaner, kenntlich an ihren grauen „Uniformen“.
Im Freien ist es kalt, 10 bis 12 Grad Celsius, trotz weißer Schönwetterwolke vor blauem Himmel. Auf der Westseite des Hotels treffen wir auf eine Art Demonstration. An der Zufahrt sind vielleicht 150 Personen, meist ältere Frauen, mit Transparenten und Schildern aufgereiht. Ihre Unterstützung gilt der Kanditatur Boris Jelzins für den Vorsitz des Obersten Sowjets der Russischen Förderation und der Unabhängigkeit Litauens,unmittelbare Adressaten sind die Delegierten des Kongresses, die im Rossija wohnen und im Kreml tagen. Es geht friedlich zu, nur wenn höhere Ränge des Militärs vorbeihasten, erregen sich die Demonstrantinnen.
Der Rote Platz ist noch von der Miliz gesperrt, er wird 5 nach 10 für Besucher freigegeben. Es herrscht mäßiger Betrieb, da das Mausoleum des bedauernswerten Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt LENIN, montags geschlossen bleibt. Erschreckend ist der Zustand der Fassaden und besonders der Höfe in der Umgebung des Kremls, die voller Bauschutt und Gerümpel liegen. Die Gebäude haben alte, dutzendfach ünerlackierte, schmutzige Fenster. Überall bröckelt der Putz. Wie wird es in der Provinz aussehen, wenn das hier das Zentrum ist?
Als leicht verwittert erweisen sich aus der Nähe auch die bemalten Fassaden der Basilius-Kathedrale, mit ihren exotischen, bunten Märchentürmen.
An der Kremlmauer entlang der Moskwa treffen wir auf eine Schar Nebelkrähen. Am tiefhängenden Zweig einer Pappel baumelt eine davon, wie erhängt. Aber gleich zeigt sich, dass sich dieser Vogel ein Kunststück ausgedacht hat, um mit einem Bein festgeklammert an irgendwelche Knospen zu kommen. Der Milizionär, der dort Wache steht, kennt die Nummer schon: Er lächelt.
Als wir auf der Kammenyi-Brücke die Moskwa überqueren, beginnt Schneeregen. Zurück beim Rossija haben wir Hunger, Auftakt zur Suche nach einem Restaurantplatz. Der Türsteher der Gaststätte des Westflügels schlägt als Voraussetzung für den Einlass eine Schachtel Zigaretten vor. Wir haben weder Zigaretten noch Kleingeld. In dieser Situation siegt der Hunger über die Prinzipien, der Unverschämte bekommt einen Zehnrubelschein. Drinnen weist uns der Chefkellner darauf hin, dass alles, aber auch wirklich ales reserviert sei. Das weitgehend leere Lokal wirkt nicht danach. Diesmal dominieren die Prinzipien. Nach einer Pause auf dem Zimmer landen wir schließlich in einer der Etagen-Cafeterias, die um 14 Uhr endlich wieder öffnen.
Nachmittags begeben wir uns zu Fuß zum Arbat, der berühmten Moskauer Fußgängerzone. Es herrscht Betrieb: Fußgängegedränfe, Straßenmaler, Gemäldeausstellungen, Holzpuppenverkäufer, Kinderfotografen. Den Rückweg nehmen wir über den Kalininprospekt und durch den Alexandergarten an der Kremlmauer, vorbei am Grab des Unbekannten Soldaten. Frischvermählte kommen gewöhnlich hierher und legen ihre Sträuße nieder. Die Blumen zeugen davon, doch Brautpaare sind um diese Zeit nicht in Sicht. Aber immer wieder bleiben Besucher und Passanten mehr oder weniger andächtig stehen. Mütter führen ihre Kinder hierher, die Söhne nehmen Haltung an, eine Frau bekreuzigt sich zusätzlich. Am nächsten Tag liegen hier und auf den Gedenksteinen für die im Zweiten Weltkrieg zerstörten sowjetischen Städte neue Kränze und frische Blumen.
Zurück im Hotel suchen wir unsere Olympia-Betreuer auf, die dort während einer Messe Sonderschichten schieben und erfahren, dass Restaurantplätze prinzipiell bereits am Morgen reserviert werden sollten. Sie wollen uns für den Abend noch einen Platz verschaffen und versuchen uns bei einer eben eingetroffenen Gruppe österreichischer Geschäftsleute unterzubringen. Dieses Vorhaben ist gut gemeint, scheitert aber am heftig protestierenden Personal und endgültig am bulligen Geschäftsführer des Kellerlokals mit Ausblick auf einen Swimming Pool. Unser Abendessen erhalten wir in einer Etagencafeteria, diesmal im 4. Stock, einfach und billig.
Dienstag 22. Mai 1990
Im Frühstücksraum ist Hochbetrieb: Graue Dienstanzüge überall, kaum ein bunter Fleck – kein guter Anfang. Die beiden Olympiabetreuer sind da und Alexandra schlägt uns ein ganz besonderes Restaurant für den Abend vor, das Kropotskaja in der Straßé gleichen Namens. Noch ziemlich verschlafen stimmen wir zu, etwas unangenehm von der Information berührt, dass dort ausschließlich mit Scheckkarte bezahlt wird, durchschnittliche Sowjetbürger folglich keinen Zutritt haben. Wir einigen uns darauf, für unsere Hinfahrt selbst zu sorgen.
Die Sonne scheint heute morgen, es ist etwas wärmer als an den Vortagen, leider nur für kurze Zeit.
Im Hotel Intourist, am Eingang zum Marx-Prospekt, befindet sich die Buchungsstelle für Stadtrundfahrten und andere Besichtigungsangebote. Wir können uns informieren, Anmeldung und Bezahlung ist jedoch erst 15 Minuten vor Fahrtantritt möglich. Auf dem Weg zum Kreml werden wir angehalten und treffen so einenn Taxifahrer wieder, mit dem ich bei der Ankunft am Flughafen ein paar Worte gewechselt hatte. Er will uns wohl fahren, lädt uns vielleicht auch ein. Wir sind unschlüssig, fühlen uns überrumpelt, das freundliche, offene Gesicht lässt eine totale Absage aber ncht zu und so verabreden wir uns für den nächsten Morgen 10 Uhr am Südeingang des Rossija. Unser Bekannter könnte uns zu einem der Kolchosmärkte oder zu den drei Bahnhöfen um den Komsomolskaja-Platz fahren.
Der Kreml ist gepflegter als alles, was wir in Moskau bisher gesehen haben. Hier drängen sich internationale und sowjetische Touristen auf dem Kathedralenplatz. Es wird fotografiert und gefilmt was das Zeug hält. Die Partei- und Regierngsgebäude bleiben Touristen natürlich verschlossen. Ein Lenindenkmal nahe der Kremlmauer über der Moskwa wird weniger frequentiert. Eine kleine Gruppe US-amerikanischer Exilrussen lichtet sich gegenseitig vor dem sitzenden, nachdenklich, fast schwermütig dreinblickenden Lenin ab. Eine Schulklasse, 9- oder 10-jährige Kinder mit ihren Lehrern sammelt sich und nach einer kleinen Pause stürmen Mädchen und Jungen die dunkle, polierte Steinfassade des Denkmals und legen Blumen nieder. Die US-Russen verteilen gönnerhaft Bonbons.
Es ist Zeit an die Ernährung zu denken. Wir planen, eines der kooperativen Lokale auf dem Arbat aufzusuchen, sieben oder acht waren uns aufgefallen. Doch wir kommen zu früh, die ersten drei mit Sitzplätzen sind noch nicht geöffnet. Schließlich finden wir Plätze in einem kleinen, schicken Bistro mit, für sowjetische Verhältnisse, gesalzenen Preisen.
Auf dem Arbat und in einigen Unterführungen betteln Zigeunerinnen mit ihren Kindern. Die Kleinen sind sehr offensiv, sie klammern sich beispielsweise an das Bein eines Touristen in der Hoffnung auf etwas Geld. Die Passanten wirken gerührt und betroffen.
An der Treppe einer Fußgängerunterführung am Kalinin-Prospekt verkauft eine Frau aus einem Stand Teigtaschen mit einer Fleischfüllung, 2 Stück 1 Rubel. Wir greifen zu und verdrücken unsere Erwerbung in einer Reihe mit etlichen Moskauer Beamten und Angestellten, die ihr Mittagessen in aller Eile einnehmen.
Beim Hotel Intourist schließen wir uns einer deutschsprachigen Stadtrundfahrt (2 1/2 Stunden) mit Haltepunkten am Roten Platz, dem Moskwa-Ufer gegenüber des Kreml beim Jungfrauen-Kloster und in den „Leninbergen“, dem Moskwa-Steilufer in der Nähe der Universität. Die Füherin ist routiniert, vermeidet Plattheiten. Am Rande informiert sie mit ein paar Bemerkungen über das „gesunkene Ansehen der KPdSU“, die Gründung bürgerlicher Parteien wie Kadetten (konstitionelle Monarchisten), Liberale und Sozialdemokraten, das Existenzminimum (70 Rubel pro Person und Monat), Studienbedingungen (Aufnahmeprüfung, danach billiger Platz im Wohnheim und 50 Rubel monatlich), den Mangel an Restaurants und die hohen Preise der Kooperativen-Restaurants. Die deutschsprachigen Gäste aus der BRD, der DDR, Österreich und der Schweiz finden auf jeden Fall ihre Vorurteile bestätigt und johlen ein paar Mal befreit auf.
Zurück im Rossija wollen wir uns bei Olympia vergewissern, dass die Reservierung im exklusiven Kropotskaja für das Abendessen erfolgreich war. Da Alexandra noch nicht da ist, entschließen wir uns, das Lokal ohne dieses Wissen aufzusuchen. Wir gehen zu Fuß und kommen mit geringfügiger Verspätung an. Der Türsteher zückt zwei handgeschriebene Reservierungslisten: Unsere Namen sind nicht dabei. Schade, wohl ein Fehler, wendet sich ab. Auch heute werden wir unser Abendessen in einer Hotel-Cafeteria einnehmen, diesmal freilich im 8 Stock.
Mittwoch 23. Mai 1990
Beim Frühstück sagt uns Alexandra, dass sie die Plätze im Kropotskaja tatsächlich bestellt hat. Unsere Betreuer wirken etwas niedergeschlagen. Sie wollen sicherlich das Beste, erreichen es aber nicht. Wir kommen überein, Plätze in irgendeinem Restaurant des Rossija zu buchen.
Unser Taxifahrer, von dem wir glauben, er käme ganz bestimmt zum Treffpunkt, ist nicht da. Wir machen uns zur nächsten Metrostation auf, mit dem Ziel Baumannskaja, dort befindet sich einer der Kolchosmärkte. An der Dzerschinskaja müssen wir umsteigen un stellen fest, dass es von hier aus leichter fält zur Kosmoslozkaja zu gelangen, wo drei große Bahnhöfe der Eisenbahn beieinander liegen. Zwischen dem Leningrader und dem Jaroslawer Bahnhof ist ein Blumenmarkt. Uns fällt ein Stand auf, an dem Zitronenschößlinge, bewurzelt, mit Blüten und Früchten, verkauft werden. Dann sitzen wir vor dem Jaroslawer Bahnhof auf einer Brüstung und schaue demTreiben zu. Der Kasaner Bahnhof gegenüber bietet eine besonders exotische Kulisse. Eva fotografiert, trotz der Warnungen in aktuellen Reiseführern vor dem Verlust des Films an die Miliz. Denn das Fotografieren von Bahnhöfen, Flugplätzen und anderen infrastrukturellen Enrichtungen ist in der Sowjetunion immer noch verboten. Obwohl jede Menge Uniformierter in der Nähe sind, geht alles gut.
Dann brechen wir zur Baumannskaja auf. Der Kolchosmarkt befindet sich in einem geräumigen Rundbau. Wir fallen dort auf, besonders als wir fotografieren. Es gibt hier ein reichhaltiges Angebot an Obst und Gemüse: Apfelsinen, Zitronen, Äpfel, Birnen, Tomaten, Gurken, Kirschen, grüner Salat, Radischen, Kartoffeln, Rote Beete, Knoblauch, Zwiebeln, Meerrechtich, daneben getrocknete Aprikosen, Rosinen, Haselnüsse, Sämereien, Fleisch, Kräuter, Erdnüsse, Hagebutten. Der mäßige Kundenandrang angsichts solch begehrter Waren weist auf die hohen, zu hohen Preise hin. Ein Ehepaar hinter einem liebevoll trapierten Sämereistand nimmt Kontakt zu uns auf, sie sind so schüchtern wie wir in diesem Moment. Wir machen ein paar Bilder von ihnen und ihrem Stand und schreiben ihre Adresse auf.
In der Nähe der Epiphania-Patriarchatskathedrale betreten wir ein Kooperativen-„Cafe“, in dem an Stehtischen Mittagstisch eingenommen wird. Ein Essen kostet 1 bis 2 Rubel. Es ist voll, das Geschäft floriert. Die Kundschaft dürfte überwiegend von einer Fabrik kommen oder auf dem Weg dorthin sein. Es gibt keinen Alkohol. Eine Türe weiter geht es in ein Cafe, in dem man wirklich Kaffee trinken kann und außerdem Eis bekommt. Es regnet jetzt stärker und der kaum beleuchtete Raum füllt sich mit jungen Leuten, die vielleicht irgendwo eine Ausbildung machen. Das Eis (mit Preiselbeeren) schmeckt ausgezeichnet, dagegen ist der Kaffee so fad wie überall in Moskau.
Wieder auf der Straße lässt der Regen die Regenrinnen und Abflussrohre in Aktion treten, die alle einen guten halben Meter über dem Pflaster enden. Die Passanten werden von oben und unten eingenässt. Bald erreichen wir die Metrostation und sind im Trockenen.
Die Etagenfrau im Rossija hat die erhoffte Nachricht über die Reservierung von Restaurantplätzen nicht. Doch um 19 Uhr erwartet uns ein Olympia-Mitarbeiter am Osteingang und geleitet uns in das Restaurant Wostock 2, das wir schon als unser Frühstückslokal kennen. Plaziert werden wir an einem Tisch, an dem bereits, wie sich herausstellt, ein afghanisches Paar sitzt. Die dicke Kellnerin nimmt auf unsere geringen Kenntnisse der russischen Sprache nicht die mindeste Rücksicht und so wissen wir wieder nur ungefähr, was wir bestellt haben. Später entdecken wir, dass es durchaus Speisekarten gibt. Mit unserem Essen sind wir recht zufrieden. Unsere Tischnachbarn möchten Sekt, den man hier Champansky nennt. Die Kellnerin lehnt ab. Wenig später erhält ein neuer Gast am Nachbartisch Sekt. Auf den Widespruch angesprochen lächelt sie stämmige Frau und gibt eine Erklärung, die auf den Gesichtern der Afghani Skepsis hervorruft. Doch der Sekt am Nachbartisch ist nicht gekühlt. Der Korken knallt, der Gast ist bekleckert.
Donnerstag 24. Mai 1990
Dies ist der wärmste Tag unseres Moskauaufenthalts, aber ein dicker Pulli unter dem Jackett ist auch heute meist angenehm. Wir laufen am Moskwa-Ufer entlang, vor uns der gewaltige Zuckerbäckerbau des Hotels Kotelnitscheskaja. Bei einer Anlegestelle fragen wir nach einer Schiffsverbindung zum Gorkipark, doch es scheint keine zu geben oder der Kartenverkäufer versteht uns nicht. Deshalb wenden wir, überqueren die Moskwa auf der nächsten Brücke und wandern am Südufer des breiteren Flussarms auf unser Ziel los. Das schmiedeeiserne Geänder, das den Gehsteig vom Fluß trennt, hat als zentrales Ornament den Sowjetstern. Das gegenüberliegende Ufer wird von den vergoldeten Kuppeln der Kremlkirchen und dem Gebäude des Obersten Sowjets überragt, nach vorn blicken wir auf den mächtigen, grauen Wohn- und Kulturkomplex mit Restaurants, Kinos und Theatern aus den Dreißiger Jahren. Auf der Westspitze der Insel zwische den Moskwaarmen stehen heruntergekommene Backsteinbauten, die am Geruch, der herüberweht, unschwer als Schokoladenfabrik zu identifizieren sind. An der Staatlichen Galerie vorbei erreichen wir die Uliza Krymskij Val. und damit den Haupteinang des „Gorki-Kultur- und Erholungsparks“, kenntlich an dem überdimensionalen Torbau. Aus zahlreichen Lautsprechern dröhnt sowjetische und westliche Schlagermusik. Jetzt, vor 11 Uhr, hält sich der Betrieb in Grenzen, die Cafes und Buden öffnen erst. Auf enem Teich tummeln sich Schwarze Schwäne. Als wir drei Stunden später zurückkommen ist mehr los: Eltern mit Kindern, Paare, Gruppen Jugendlicher flanieren, sonnen sich auf den Parkbänken, füllen die Cafés, fahren Karusell oder Riesenrad.
Wir begeben uns auf den Weg zum Donskoij-Kloster und geraten dabei südlich des Lenin-Prospekts zwischen schäbige Wohnblocks mit verwahrlosten, müllübersäten Grünanlagen. Stellenweise werden Fernheizleitungen repariert, deren Rohrleitngen überwiegend oberirdisch verlaufen und nur sehr provisorisch isoliert sind. Daneben versenken Arbeiter Gasleitungen in Gräben. An das Kloster grenzt westlich ein Friedhof an Wir treten ein und staunen über die Fotografien der Verstorbenen, die an den Grabsteinen angebracht sind. Mitunter sind in die polierten Steine lebensgroße, fotorealistische Porträts eingraviert. Enge herrscht hier, jeder Fleck ist als Grabstätte ausgenutzt. Dichte Baumkronen überschatten den Ort, überall sind schmale Holzbäne für die Hintebliebenen aufgestellt. Christliche Symbole fehlen hier fast gänzlich. Das Kloster ist von einer beeindruckenden Ziegelmauer umgeben. Der Staat hat den Komplex kürzlich der Orthodoxen Kirche zurückgegeben. Er wird renoviert und kann nicht besichtigt werden.
Am Nachmittag fahren wir mit der Metro zur Station Dzershinskaja im Zentrum.
Gelegentlich eröffnen sich überraschende Ausblicke, etwa auf kleine orthodoxe Kirchen mit verspielt wirkenden dunkelblauen, mit goldenen Sternen übersäten, grünen oder goldenen Kuppeln auf zierlichen Türmchen zwischen erdrückenden, grauen Fassaden von Verwaltungsgebäuden. Wir kommen am Dsershinsky-Denkmal vorbei, das an den Gründer des sowjetische Geheimdiestes erinnert und sitzen wenig später auf einer Bank zu Füßen eines steinernen Karl Marx.
FORTSETZUNG IN DER Galerie Achschabad/Turkmenien