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Eine Reise in die Sowjetunion – Reisenotizen Mai und Juni 1990
Prolog: Das Frankfurter Büro von Intourist bedindet sich im Zentrum, unweit der Zeil, in der Stephanstraße. Dies herauszufinden war nicht schwer. Nicht so einfach war es hingegen, in dieses Büro hineinzugelangen. Denn immer, wenn wir hier vorbeikamen, fanden wir es veblüffenderweise verschlossen vor, selbst zur besten Geschäftszeit.
Heute, an einem trüben, nasskalten Vormittag im Januar, würde es gelingen. Der Pförtner am Nachbarportal hatte uns das Geheimnis verraten.
Welcher Beschäftigung der Herr von Intourist auch immer nachgegangen war, auf den Anruf des Pförtners eilt er herbei, ein mittelgroßer, untersetzter, silberhaariger Mann im eleganten, grauen Anzug.
Nun, das Intouristangebot an Reisen in die Sowjetunion ist schnell erklärt, die wenigen Prospekte sind im Nu verteilt. Keine Reise länger als zwei Wochen? Der Herr von Intourist reagiert erstaunt, beinahe schockiert. „Was wolle Sie denn länger als zwei Wochen in der Sowjetnion?“ Unser Unverständnis beginnt ihn ärgerlich zu machen, ungeduldig wippt er auf den Zehen, vielleicht denkt er an die Tätigkeit, bei der wir ihn unterbrochen haben.
Da wollen wir ihn nicht länger stören.
Sonntag 20. Mai 1990: Von Frankfurt nach Moskau
Flughafen Frankfurt am Main. Ein Bus bringt uns vom Warteraum zum Flugzeug. Wir sind eingekeilt zwischen den unterschiedlichsten Reisegruppen, Gefolgschaft ihrer Reiseleiter. Wir: Eva (32) und ich (39) sind auf diesem Flug nach Moskau die Ausnahme, den wir sind „Individualtouristen“ oder „Individuals“, wie uns die Leute von Intourist und das Hotelpersonal in den nächsten vier Woche nennen werden. Man lässt uns bei einer stattlichen, vierstrahligen Aeroflot-Maschine aus dem Bus steigen, einer Iljuschin, dem sowjetischen Jumbo. Gepäckidentifikation. Die Reise kann beginnen.
Der Landeanflug führt über Wälder und gewundene Flüsse mit Passagierdampfern. Wir kommen auf Scheremetjewo 2 an, einem ganz normalen, internationalen Flughafen. Zwischen Gepäckband und Zoll sind Gepäckwagen zu haben, aber nur gegen einen Rubel das Stück. Rubel, die man an dieser Stelle noch nicht haben darf. Also tragen wir unsere Taschen und Koffer. Der Zoll fertigt zügig ab. Ein flüchtigrer Blick in die Fototasche, die beiden Kameras sind in der Zollerklärung nachzutragen. Reiseleiter von Intourist suchen ihre Schützlinge, sprechen uns an, doch wir stehen nicht auf ihren Listen.
Wir mussten einen ziemlich teuren „Transit“ vom Flughafen zum Hotel buchen und den wollen wir nun wahrnehmen. Intourist schickt uns zur Information, die Information telefoniert mit dem Moskauer Büro unseres Reiseveranstalters Olympia, schickt uns daraufhin wieder zum Intouristschalter. Dort wird dann widerwillig ein Taxifahrer außerplanmäßig beauftragt, uns zum Hotel Rossija zu bringen. Mit einem klapprigen Wolga geht die Fahrt im Höllentempo ohne Zeichengebung, alle drei Richtungsfahrbahnen nutzend, erst durchs Grüne, dann durch schäbige Vorstädte, schließlich ins Zentrum von Moskau. Das Hotel Rosija (Russland) ist ein gewaltiger quadratischer Bau mit Innenhof und aufgesetztem Turm. Unser Zimmer liegt im 10. Stock, Ostflügel. Dort angekommen ändert die Etagenfrau den Hotelausweis: 7. Stock, Nordflügel. Etwas konfus schleppen wir unser Gepäck den Umweg über den Südflügel. Das Zimmer: Brauchbar, aber etwas schäbig, abgenutzt.
Nach dem Geldwechseln (200 DM, gut 600 Rubel werden für 4 Wochen reichen) machen wir uns auf die Suche nach einem Abendessen. Die Suche führt uns in ein Restaurant im 2. Stock, Ostflügel. Niemand bewacht den Eingang, wir setzen uns und werden von allen Bedienungen ignoriert. Eine Kombo spielt Kitsch, es wird getanzt, ein paar kleinere Gesellschaften lärmen gutgelaunt. Die Männer wirken ziemlich grau in ihren Anzügen, was man von den Frauen, oft in sexbetonter Ausgehkleidng oder im Discodress, angesichts üppiger Figuren recht gewagt, nicht behaupten kann. Wir geben auf, fahren in das Nobelrestaurant im 21. Obergeschoß. Am Eingang werden wir abgewiesen, betreten mit anderen Gästen dennoch das Restaurant, tragen wechselnden Kellnern unseren Wunsch nach Bewirtung vor und warten. Die Mühe lohnt sich, wir erhalten schließlich enen Tisch mit Blick auf die Moskwa und kurz darauf werden Speisen aufgetragen, von denen wir nicht genau wissen, ob wir sie bestellt haben: Etliche Schüsselchen und Teller mit geräuchertem Fisch, verschiedenen Wurst- und Bratensorten, Kaviar, süßsauer eingelegte Birnen, Weiß- und Schwarzbrot, zuviel für zwei Personen unserer Art. Mit Sicherheit ausgewählt haben wir nur den Wein, Rotwein von einer moldawischen Sowchose. Pepsicola und Mineralwasser, bereits geöffnet, sind ergänzende Pflichtgetränke. Im 21. Geschoß, im Turmrestaurant, herrscht verschärfte Discostimmung. Falls gewagtere Outfits der Damen registriert werden, geschieht es ohne äußere Anzeichen. Dann kommt die Rechnung: 95 Rubel, etwa die Hälfte eines sowjetischen Monatsgehalts, ein Preis, den wir hinfort stark unterschreiten werden. Etwas angeheitert von dem ausgezeichneten Rotwein gehen wir Schlafen
Montag 21. Mai 1990
Bedauerlich, das Frühstück muss bis 8.30 Uhr angetreten werden. Am Büfett – Zutritt nur für Olympia-Kunden – ist reiche Auswahl, darunter ausgezeichnete Butter, feiner Quark, Pfannkuchen, Zwetschgensaft. Unter den Gästen sind viele Geschäftsreisende, Westdeutsche, Österreicher, US-Amerikaner, kenntlich an ihren grauen „Uniformen“.
Im Freien ist es kalt, 10 bis 12 Grad Celsius, trotz weißer Schönwetterwolke vor blauem Himmel. Auf der Westseite des Hotels treffen wir auf eine Art Demonstration. An der Zufahrt sind vielleicht 150 Personen, meist ältere Frauen, mit Transparenten und Schildern aufgereiht. Ihre Unterstützung gilt der Kanditatur Boris Jelzins für den Vorsitz des Obersten Sowjets der Russischen Förderation und der Unabhängigkeit Litauens,unmittelbare Adressaten sind die Delegierten des Kongresses, die im Rossija wohnen und im Kreml tagen. Es geht friedlich zu, nur wenn höhere Ränge des Militärs vorbeihasten, erregen sich die Demonstrantinnen.
Der Rote Platz ist noch von der Miliz gesperrt, er wird 5 nach 10 für Besucher freigegeben. Es herrscht mäßiger Betrieb, da das Mausoleum des bedauernswerten Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt LENIN, montags geschlossen bleibt. Erschreckend ist der Zustand der Fassaden und besonders der Höfe in der Umgebung des Kremls, die voller Bauschutt und Gerümpel liegen. Die Gebäude haben alte, dutzendfach ünerlackierte, schmutzige Fenster. Überall bröckelt der Putz. Wie wird es in der Provinz aussehen, wenn das hier das Zentrum ist?
Als leicht verwittert erweisen sich aus der Nähe auch die bemalten Fassaden der Basilius-Kathedrale, mit ihren exotischen, bunten Märchentürmen.
An der Kremlmauer entlang der Moskwa treffen wir auf eine Schar Nebelkrähen. Am tiefhängenden Zweig einer Pappel baumelt eine davon, wie erhängt. Aber gleich zeigt sich, dass sich dieser Vogel ein Kunststück ausgedacht hat, um mit einem Bein festgeklammert an irgendwelche Knospen zu kommen. Der Milizionär, der dort Wache steht, kennt die Nummer schon: Er lächelt.
Als wir auf der Kammenyi-Brücke die Moskwa überqueren, beginnt Schneeregen. Zurück beim Rossija haben wir Hunger, Auftakt zur Suche nach einem Restaurantplatz. Der Türsteher der Gaststätte des Westflügels schlägt als Voraussetzung für den Einlass eine Schachtel Zigaretten vor. Wir haben weder Zigaretten noch Kleingeld. In dieser Situation siegt der Hunger über die Prinzipien, der Unverschämte bekommt einen Zehnrubelschein. Drinnen weist uns der Chefkellner darauf hin, dass alles, aber auch wirklich ales reserviert sei. Das weitgehend leere Lokal wirkt nicht danach. Diesmal dominieren die Prinzipien. Nach einer Pause auf dem Zimmer landen wir schließlich in einer der Etagen-Cafeterias, die um 14 Uhr endlich wieder öffnen.
Nachmittags begeben wir uns zu Fuß zum Arbat, der berühmten Moskauer Fußgängerzone. Es herrscht Betrieb: Fußgängegedränfe, Straßenmaler, Gemäldeausstellungen, Holzpuppenverkäufer, Kinderfotografen. Den Rückweg nehmen wir über den Kalininprospekt und durch den Alexandergarten an der Kremlmauer, vorbei am Grab des Unbekannten Soldaten. Frischvermählte kommen gewöhnlich hierher und legen ihre Sträuße nieder. Die Blumen zeugen davon, doch Brautpaare sind um diese Zeit nicht in Sicht. Aber immer wieder bleiben Besucher und Passanten mehr oder weniger andächtig stehen. Mütter führen ihre Kinder hierher, die Söhne nehmen Haltung an, eine Frau bekreuzigt sich zusätzlich. Am nächsten Tag liegen hier und auf den Gedenksteinen für die im Zweiten Weltkrieg zerstörten sowjetischen Städte neue Kränze und frische Blumen.
Zurück im Hotel suchen wir unsere Olympia-Betreuer auf, die dort während einer Messe Sonderschichten schieben und erfahren, dass Restaurantplätze prinzipiell bereits am Morgen reserviert werden sollten. Sie wollen uns für den Abend noch einen Platz verschaffen und versuchen uns bei einer eben eingetroffenen Gruppe österreichischer Geschäftsleute unterzubringen. Dieses Vorhaben ist gut gemeint, scheitert aber am heftig protestierenden Personal und endgültig am bulligen Geschäftsführer des Kellerlokals mit Ausblick auf einen Swimming Pool. Unser Abendessen erhalten wir in einer Etagencafeteria, diesmal im 4. Stock, einfach und billig.
Dienstag 22. Mai 1990
Im Frühstücksraum ist Hochbetrieb: Graue Dienstanzüge überall, kaum ein bunter Fleck – kein guter Anfang. Die beiden Olympiabetreuer sind da und Alexandra schlägt uns ein ganz besonderes Restaurant für den Abend vor, das Kropotskaja in der Straßé gleichen Namens. Noch ziemlich verschlafen stimmen wir zu, etwas unangenehm von der Information berührt, dass dort ausschließlich mit Scheckkarte bezahlt wird, durchschnittliche Sowjetbürger folglich keinen Zutritt haben. Wir einigen uns darauf, für unsere Hinfahrt selbst zu sorgen.
Die Sonne scheint heute morgen, es ist etwas wärmer als an den Vortagen, leider nur für kurze Zeit.
Im Hotel Intourist, am Eingang zum Marx-Prospekt, befindet sich die Buchungsstelle für Stadtrundfahrten und andere Besichtigungsangebote. Wir können uns informieren, Anmeldung und Bezahlung ist jedoch erst 15 Minuten vor Fahrtantritt möglich. Auf dem Weg zum Kreml werden wir angehalten und treffen so einenn Taxifahrer wieder, mit dem ich bei der Ankunft am Flughafen ein paar Worte gewechselt hatte. Er will uns wohl fahren, lädt uns vielleicht auch ein. Wir sind unschlüssig, fühlen uns überrumpelt, das freundliche, offene Gesicht lässt eine totale Absage aber ncht zu und so verabreden wir uns für den nächsten Morgen 10 Uhr am Südeingang des Rossija. Unser Bekannter könnte uns zu einem der Kolchosmärkte oder zu den drei Bahnhöfen um den Komsomolskaja-Platz fahren.
Der Kreml ist gepflegter als alles, was wir in Moskau bisher gesehen haben. Hier drängen sich internationale und sowjetische Touristen auf dem Kathedralenplatz. Es wird fotografiert und gefilmt was das Zeug hält. Die Partei- und Regierngsgebäude bleiben Touristen natürlich verschlossen. Ein Lenindenkmal nahe der Kremlmauer über der Moskwa wird weniger frequentiert. Eine kleine Gruppe US-amerikanischer Exilrussen lichtet sich gegenseitig vor dem sitzenden, nachdenklich, fast schwermütig dreinblickenden Lenin ab. Eine Schulklasse, 9- oder 10-jährige Kinder mit ihren Lehrern sammelt sich und nach einer kleinen Pause stürmen Mädchen und Jungen die dunkle, polierte Steinfassade des Denkmals und legen Blumen nieder. Die US-Russen verteilen gönnerhaft Bonbons.
Es ist Zeit an die Ernährung zu denken. Wir planen, eines der kooperativen Lokale auf dem Arbat aufzusuchen, sieben oder acht waren uns aufgefallen. Doch wir kommen zu früh, die ersten drei mit Sitzplätzen sind noch nicht geöffnet. Schließlich finden wir Plätze in einem kleinen, schicken Bistro mit, für sowjetische Verhältnisse, gesalzenen Preisen.
Auf dem Arbat und in einigen Unterführungen betteln Zigeunerinnen mit ihren Kindern. Die Kleinen sind sehr offensiv, sie klammern sich beispielsweise an das Bein eines Touristen in der Hoffnung auf etwas Geld. Die Passanten wirken gerührt und betroffen.
An der Treppe einer Fußgängerunterführung am Kalinin-Prospekt verkauft eine Frau aus einem Stand Teigtaschen mit einer Fleischfüllung, 2 Stück 1 Rubel. Wir greifen zu und verdrücken unsere Erwerbung in einer Reihe mit etlichen Moskauer Beamten und Angestellten, die ihr Mittagessen in aller Eile einnehmen.
Beim Hotel Intourist schließen wir uns einer deutschsprachigen Stadtrundfahrt (2 1/2 Stunden) mit Haltepunkten am Roten Platz, dem Moskwa-Ufer gegenüber des Kreml beim Jungfrauen-Kloster und in den „Leninbergen“, dem Moskwa-Steilufer in der Nähe der Universität. Die Füherin ist routiniert, vermeidet Plattheiten. Am Rande informiert sie mit ein paar Bemerkungen über das „gesunkene Ansehen der KPdSU“, die Gründung bürgerlicher Parteien wie Kadetten (konstitionelle Monarchisten), Liberale und Sozialdemokraten, das Existenzminimum (70 Rubel pro Person und Monat), Studienbedingungen (Aufnahmeprüfung, danach billiger Platz im Wohnheim und 50 Rubel monatlich), den Mangel an Restaurants und die hohen Preise der Kooperativen-Restaurants. Die deutschsprachigen Gäste aus der BRD, der DDR, Österreich und der Schweiz finden auf jeden Fall ihre Vorurteile bestätigt und johlen ein paar Mal befreit auf.
Zurück im Rossija wollen wir uns bei Olympia vergewissern, dass die Reservierung im exklusiven Kropotskaja für das Abendessen erfolgreich war. Da Alexandra noch nicht da ist, entschließen wir uns, das Lokal ohne dieses Wissen aufzusuchen. Wir gehen zu Fuß und kommen mit geringfügiger Verspätung an. Der Türsteher zückt zwei handgeschriebene Reservierungslisten: Unsere Namen sind nicht dabei. Schade, wohl ein Fehler, wendet sich ab. Auch heute werden wir unser Abendessen in einer Hotel-Cafeteria einnehmen, diesmal freilich im 8 Stock.
Mittwoch 23. Mai 1990
Beim Frühstück sagt uns Alexandra, dass sie die Plätze im Kropotskaja tatsächlich bestellt hat. Unsere Betreuer wirken etwas niedergeschlagen. Sie wollen sicherlich das Beste, erreichen es aber nicht. Wir kommen überein, Plätze in irgendeinem Restaurant des Rossija zu buchen.
Unser Taxifahrer, von dem wir glauben, er käme ganz bestimmt zum Treffpunkt, ist nicht da. Wir machen uns zur nächsten Metrostation auf, mit dem Ziel Baumannskaja, dort befindet sich einer der Kolchosmärkte. An der Dzerschinskaja müssen wir umsteigen un stellen fest, dass es von hier aus leichter fält zur Kosmoslozkaja zu gelangen, wo drei große Bahnhöfe der Eisenbahn beieinander liegen. Zwischen dem Leningrader und dem Jaroslawer Bahnhof ist ein Blumenmarkt. Uns fällt ein Stand auf, an dem Zitronenschößlinge, bewurzelt, mit Blüten und Früchten, verkauft werden. Dann sitzen wir vor dem Jaroslawer Bahnhof auf einer Brüstung und schaue demTreiben zu. Der Kasaner Bahnhof gegenüber bietet eine besonders exotische Kulisse. Eva fotografiert, trotz der Warnungen in aktuellen Reiseführern vor dem Verlust des Films an die Miliz. Denn das Fotografieren von Bahnhöfen, Flugplätzen und anderen infrastrukturellen Enrichtungen ist in der Sowjetunion immer noch verboten. Obwohl jede Menge Uniformierter in der Nähe sind, geht alles gut.
Dann brechen wir zur Baumannskaja auf. Der Kolchosmarkt befindet sich in einem geräumigen Rundbau. Wir fallen dort auf, besonders als wir fotografieren. Es gibt hier ein reichhaltiges Angebot an Obst und Gemüse: Apfelsinen, Zitronen, Äpfel, Birnen, Tomaten, Gurken, Kirschen, grüner Salat, Radischen, Kartoffeln, Rote Beete, Knoblauch, Zwiebeln, Meerrechtich, daneben getrocknete Aprikosen, Rosinen, Haselnüsse, Sämereien, Fleisch, Kräuter, Erdnüsse, Hagebutten. Der mäßige Kundenandrang angsichts solch begehrter Waren weist auf die hohen, zu hohen Preise hin. Ein Ehepaar hinter einem liebevoll trapierten Sämereistand nimmt Kontakt zu uns auf, sie sind so schüchtern wie wir in diesem Moment. Wir machen ein paar Bilder von ihnen und ihrem Stand und schreiben ihre Adresse auf.
In der Nähe der Epiphania-Patriarchatskathedrale betreten wir ein Kooperativen-„Cafe“, in dem an Stehtischen Mittagstisch eingenommen wird. Ein Essen kostet 1 bis 2 Rubel. Es ist voll, das Geschäft floriert. Die Kundschaft dürfte überwiegend von einer Fabrik kommen oder auf dem Weg dorthin sein. Es gibt keinen Alkohol. Eine Türe weiter geht es in ein Cafe, in dem man wirklich Kaffee trinken kann und außerdem Eis bekommt. Es regnet jetzt stärker und der kaum beleuchtete Raum füllt sich mit jungen Leuten, die vielleicht irgendwo eine Ausbildung machen. Das Eis (mit Preiselbeeren) schmeckt ausgezeichnet, dagegen ist der Kaffee so fad wie überall in Moskau.
Wieder auf der Straße lässt der Regen die Regenrinnen und Abflussrohre in Aktion treten, die alle einen guten halben Meter über dem Pflaster enden. Die Passanten werden von oben und unten eingenässt. Bald erreichen wir die Metrostation und sind im Trockenen.
Die Etagenfrau im Rossija hat die erhoffte Nachricht über die Reservierung von Restaurantplätzen nicht. Doch um 19 Uhr erwartet uns ein Olympia-Mitarbeiter am Osteingang und geleitet uns in das Restaurant Wostock 2, das wir schon als unser Frühstückslokal kennen. Plaziert werden wir an einem Tisch, an dem bereits, wie sich herausstellt, ein afghanisches Paar sitzt. Die dicke Kellnerin nimmt auf unsere geringen Kenntnisse der russischen Sprache nicht die mindeste Rücksicht und so wissen wir wieder nur ungefähr, was wir bestellt haben. Später entdecken wir, dass es durchaus Speisekarten gibt. Mit unserem Essen sind wir recht zufrieden. Unsere Tischnachbarn möchten Sekt, den man hier Champansky nennt. Die Kellnerin lehnt ab. Wenig später erhält ein neuer Gast am Nachbartisch Sekt. Auf den Widespruch angesprochen lächelt sie stämmige Frau und gibt eine Erklärung, die auf den Gesichtern der Afghani Skepsis hervorruft. Doch der Sekt am Nachbartisch ist nicht gekühlt. Der Korken knallt, der Gast ist bekleckert.
Donnerstag 24. Mai 1990
Dies ist der wärmste Tag unseres Moskauaufenthalts, aber ein dicker Pulli unter dem Jackett ist auch heute meist angenehm. Wir laufen am Moskwa-Ufer entlang, vor uns der gewaltige Zuckerbäckerbau des Hotels Kotelnitscheskaja. Bei einer Anlegestelle fragen wir nach einer Schiffsverbindung zum Gorkipark, doch es scheint keine zu geben oder der Kartenverkäufer versteht uns nicht. Deshalb wenden wir, überqueren die Moskwa auf der nächsten Brücke und wandern am Südufer des breiteren Flussarms auf unser Ziel los. Das schmiedeeiserne Geänder, das den Gehsteig vom Fluß trennt, hat als zentrales Ornament den Sowjetstern. Das gegenüberliegende Ufer wird von den vergoldeten Kuppeln der Kremlkirchen und dem Gebäude des Obersten Sowjets überragt, nach vorn blicken wir auf den mächtigen, grauen Wohn- und Kulturkomplex mit Restaurants, Kinos und Theatern aus den Dreißiger Jahren. Auf der Westspitze der Insel zwische den Moskwaarmen stehen heruntergekommene Backsteinbauten, die am Geruch, der herüberweht, unschwer als Schokoladenfabrik zu identifizieren sind. An der Staatlichen Galerie vorbei erreichen wir die Uliza Krymskij Val. und damit den Haupteinang des „Gorki-Kultur- und Erholungsparks“, kenntlich an dem überdimensionalen Torbau. Aus zahlreichen Lautsprechern dröhnt sowjetische und westliche Schlagermusik. Jetzt, vor 11 Uhr, hält sich der Betrieb in Grenzen, die Cafes und Buden öffnen erst. Auf enem Teich tummeln sich Schwarze Schwäne. Als wir drei Stunden später zurückkommen ist mehr los: Eltern mit Kindern, Paare, Gruppen Jugendlicher flanieren, sonnen sich auf den Parkbänken, füllen die Cafés, fahren Karusell oder Riesenrad.
Wir begeben uns auf den Weg zum Donskoij-Kloster und geraten dabei südlich des Lenin-Prospekts zwischen schäbige Wohnblocks mit verwahrlosten, müllübersäten Grünanlagen. Stellenweise werden Fernheizleitungen repariert, deren Rohrleitngen überwiegend oberirdisch verlaufen und nur sehr provisorisch isoliert sind. Daneben versenken Arbeiter Gasleitungen in Gräben. An das Kloster grenzt westlich ein Friedhof an Wir treten ein und staunen über die Fotografien der Verstorbenen, die an den Grabsteinen angebracht sind. Mitunter sind in die polierten Steine lebensgroße, fotorealistische Porträts eingraviert. Enge herrscht hier, jeder Fleck ist als Grabstätte ausgenutzt. Dichte Baumkronen überschatten den Ort, überall sind schmale Holzbäne für die Hintebliebenen aufgestellt. Christliche Symbole fehlen hier fast gänzlich. Das Kloster ist von einer beeindruckenden Ziegelmauer umgeben. Der Staat hat den Komplex kürzlich der Orthodoxen Kirche zurückgegeben. Er wird renoviert und kann nicht besichtigt werden.
Am Nachmittag fahren wir mit der Metro zur Station Dzershinskaja im Zentrum.
Gelegentlich eröffnen sich überraschende Ausblicke, etwa auf kleine orthodoxe Kirchen mit verspielt wirkenden dunkelblauen, mit goldenen Sternen übersäten, grünen oder goldenen Kuppeln auf zierlichen Türmchen zwischen erdrückenden, grauen Fassaden von Verwaltungsgebäuden. Wir kommen am Dsershinsky-Denkmal vorbei, das an den Gründer des sowjetische Geheimdiestes erinnert und sitzen wenig später auf einer Bank zu Füßen eines steinernen Karl Marx.
FORTSETZUNG IN DER Galerie Achschabad/Turkmenien