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Samstag 09: Juni 1990, Flug von Alma Ata nach Irkutzk und Weiterfahrt nach Listwjanka am Baikalsee
In Irkutsk kommt die Maschine mit Verfrühung an, wie bisher fast jeder Flug. Ich bin noch etwas benommen, denn mein Vordermann in der bedrückend engen Tupolew 154 verströmte ein sehr intensives Aroma, eine Mischung aus gereiften Käsefüßen und mir unbekannten Komponente. Intourist Irkutsk ist auf unser Erscheinen nicht vorbereitet und weiß mit uns nichts anzufangen. Dem Problem, dass wir eine zusätzliche Nacht im Hotel verbringen müssen, wollen sich die ziemlich desinteressiert wirkenden Intouristleute nicht stellen und die Frau, mit der wir verhandeln, ist sichtlich erleichert, als wir vorschlagen, auf den gebuchten Transit zu verzichten und die rund 60 Kilometer bis zum Hotel Baikal in der Ortschaft Listwjanka mit einem Taxi zurückzulegen. Für 50 Rubel findet sich ein Fahrer. Er ist bester Stimmung und weist uns unterwegs durch die Taiga auf etliche Datschen-Siedlungen für prominente Sowjetbürger hin. Im Hotel löst unsere um eine Nacht verfrühte Ankunft keine Freude aus, obwohl es nicht an Unterbringungsmöglichkeiten mangelt. Nach mehreren Telefonaten zwischen der Rezeption und Intourist Irkutsk gesteht man uns vorerst nur für eine Nacht ein Zimmer zu.
Im Vergleich zu Alma-Ata sind die Uhren um drei Stunden vorzustellen, die Zeitdifferenz zu Moskau beträgt jetzt sechs Stunden. Das Restaurant öffent erst um 19 Uhr, es bleibt eine Stunde Zeit für einen ersten Spaziergang auf der Uferstraße entlang des Baikalsees. Die Häuser des Örtchens sind durchweg aus Holz gebaut und bunt angestrichen, oft grün oder blau. Die meisten der Wohnhäuser bieten sicher nicht mehr als zwei Zimmern Raum. Häufig sind die Fenster farbig abgesetzt und mit komlizierten Schnitzereien verziert. In den kleinen, mit Bretterzäunen abgegrenzten Gärten fallen die gepflegten Gewächshäuser auf. Bei unserer Ankunft betrug die Temperatur 22° Celsius, hier am Seeufer frösteln wir, ein deutlicher Kontrast, nachdem wir uns an das mittelasiatische Kima gewöhnt hatten.
Während wir uns im Restaurant noch über die Bekömmlichkeit des Abendessens verständigen, spaziert eine Kakerlake über das Tischtuch. Wir werten das nicht als gutes Zeichen und ein Teil der nicht sehr vertrauenserweckenden Speisen bleibt unverzehrt. Die Sonne geht merkwürdig spät, erst um 22 Uhr Ortszeit unter, etwas stimmt mit dem Zuschnitt der Zeitzonen nicht.
Sonntag 10. Juni 1990: Listwjanka
Der Morgen bringt zwei Überraschungen: Ein gutes Frühstück mit Schinken, Pflaumenmarmelade und frischem Graubrot und, nach weiteren Telefonaten das Einverständnis von Intourist Irkutzk mit der Verlängerung unseres Aufenthalts im Hotel Baikal in Listwjanka nach eigener Wahl, entsprechend wird sich der Aufenthalt in Irkutzk verkürzen.
Wir packen ein paar Sachen zusammen und wandern auf der Uferstraße zum Hafen der Ortschaft, in dem die Raketa-Schnellboote aus Irkutzk anlegen. Listwjanla ist verstreut, einige Teile ducken sich in schmale Täler mit bescheidenen Zuflüssen des Baikal, eingegraben in die bewaldeten Taigahänge. Die Schiffsfahrpläne klären uns auf, dass der Hauptverkehr zwische Irkutzk und Port Baikal abgewickelt wird, dem Nachbarort am anderen Ufer der Angara, des stromartigen Abflusses des Baikalsees. Soweit wir erkennen können verkehren nur wenige Schiffe entlang des Nordufers des Sees und auch die nur bis einer höchstens 30 Kilometer entfernten Anlegestelle. Es ist Mittag und Zeit, sich nach etwas Essbarem umzusehen. Ein Imbiss am Hafen verkauft Kuchen (Preis nach Gewicht) und gekochte Eier. Auf einer Bank am Seeufer verzehren wir unser Mittagessen, etwas Trinkbares ist nicht aufzutreiben. An der kleinen Werft vorbei, deren Kantine auch sonntags für Beschäftigte und deren Angehörige geöffnet hat, folgen wir der Uferstraße, die bald in einen holprigen Pfad übergeht. Es ist ein sonniger Tag und aus der Umgebung kommen Leute mit Bussen, PKW oder Motorrädern und verteilen sich am Kiesstrand vor dem Steilufer des Baikal zum Sonnen. Nur Wenige schwimmen, am Strand weht ein kühler Wind. Überall sind Papier, Glasscherben und leere Konservendosen verstreut. Schließlich bleibt der Müll zurück und der Weg schrumpft nördlich von Listwjanka zum Pfad. Ihm zu folgen wird immer riskanter, daher kehren wir bald um. eine zeitlang liege wir im Schatten der Bäume, und als wir uns entschließen, den Weg fortzusetzen, sind wir mächtig hungrig. Die Imbissbude vom Mittag hat sich inzwischen verwandelt: Abgesehen von Keksen gibt es nichts mehr Essbares, dafür aber Fruchtsaft und Bier. Das geduldige, disziplinierte Schlangestehen ist nicht (mehr) in dem Maß eine sowjetische Tugend, wie manche Reiseführer behaupten. Um das Bier wird gekämpft. Es kommt zu lautstarken Wortgefechten zwischen einer Verkäuferin, die maximal zwei Flaschen pro Person abgeben will und einigen Interessenten an größeren Kontigenten. Derweilen vertreibt die zweite Verkäuferin ungeniert gegen Aufpreis fünf oder sechs Flaschen pro Käufer wahllos am Ende der Schlange oder in der Mitte. In dem hitzigen Getümmel finden wir kein Gehör und scheiden bal d freiwillig aus der Konkurrenz aus. Kurz darauf entdecken wir ein kleines Restaurant, das uns vorher entgangen war und finden gegen jede Wahrscheinlichkeit auf Anhieb Platz. Es gibt Huhn in der Suppe oder als Braten, zweifellos gegenwärtig das häufigste Fleischgericht in der Sowjetunion. Sehr viel kräftiger setzen wir die Wanderung fort. Auf der Uferstraße stehen und liegen mehrere Kühe. Von Personenautos und selbst Omnibussen lassen sie sich nicht stören. Die Lücken zwischen ihren Leibern reichen gerade aus, um einen im Schritttempo fahrenden Bus passieren zu lassen.
Unweit des Hafens liegt der größte Ortsteil Listwjankas geschützt in der ausgedehntesten Talmulde der Gegend. Entlang eines Bachs führt ein holpriger, unbefestigter Weg in das Dorf zu einer äußerlich unscheinbaren orthodoxen Kirche und weiter in die Taiga. Am Bachufer in der Nähe der Kirche, aufgereiht an einem Zaun, arbeiten junge Leute an Ölgemälden. Wie sich gleich herausstellt sind es Studenten einer Kunstakademie ausWladiwostok, der sibirische Stadt am Japanischen Meer, im Praktikum. Flüchtig betrachten wir im Vorbeigehen einige ausgestellte Arbeiten und Eva erwirbt für 15 DM eine Abenddämmerung am Baikal, ein Bild im impressionistischen Stil, groß wie eine Schreibmaschinenseite. Mit einem anderen Studenten kommt eine Unterhaltung auf deutsch, englisch und russisch zustande. ER besteht darauf, uns mit Kohle zu porträtieren, zuerst Eva. Er benötigt nur wenige Minuten und zum Abschied bekommen wir die Zeichnungen, beinahe Karrikaturen, geschenkt. Das Kirchenportal steht offen, drinnen wieseln zwei alte Frauen mit den charakteristischen Kopftüchern vor der mit Ikonen behangenen Wand umher und bereiten den Gottesdienst vor.
Allmählich lassen wir die letzten Häuser hinter uns. Der Weg führt nun am Ostrand des sumpfigen Tals in den Wald. Links und rechts steigen die Hänge auf maximal 1250 Meter an, der Wasserspiegel des Baikal liegt 750 Meter über dem Meer. Fünf Baumarten bilden hier die Taiga: Kiefern, Lärchen, Birken, Espen und Fichten, stellenweise angereichert um Erlen, Traubenkirschbäume und Palmweiden. Fichten und Kiefern treiben gerade aus. Die Bäume stehen nicht so dicht wie in den industriegerechten mitteleuropäischen Nadelwäldern und schon gar nicht in Reih und Glied. Alle Alterstufen existieren nebeneinander, daher dringt genügend Licht für Sträucher, Blütenpflanzen und Farne bis zum Boden durch. Die Taiga blüht: An einem trockenen Hang wuchert ein Unterholz aus rotblühenden Rhododendren und weißer Waldrebe, an lichteren Stellen finden wir Preiselbeersträucher und blaue Iris. An einer weiteren Erkundung hindert uns die einsetzende Dämmerung.
Nach dem ausgedehnten Marsch sitzen wir hungrig im Hotelrestaurant. Unsere Portionen werden serviert, bevor es uns gelingt zu bestellen. Die Speisen wurden offenbar schon vor Stunden zubereitet, sie sind kalt, allenfalls lauwarm und unappetitlich fettig. Aber es gibt ausreichend Brot. Weshalb ist eine Küche, die ein ordentliches Frühstück herstellen kann, nicht in der Lage ein genießbares Abendessen zu produzieren?
Montag 11. Juni 1990, Listwjanka
Heute wandern wir an der Angora entlang bis zur Ortschaft Nikola. Vormittags um 10 Uhr ist es am Wasser bitterkalt. Wir überqueren die Straße nach Irkutzk, die dem Flusslauf folgt. Der Ort setzt sich beiderseits enes schmalen Bachs fort, Wohnhäuser mischen sich mit Wochenend-Datschen. Die Holzhäuschen sind an die Stromversorgung angeschlossen, Wasser holen die Bewohner mit Eimern aus dem Bach oder fördern es mit Motorpumpen und Schlauchleitungen in ihre bescheidenen Anwesen. Der erste Frost dürfte dieser Art der Wasserversorgung den Garaus machen. Die Zahl der Datschen wächst, sie fressen sich in die Hänge der Taiga. Die steinige Dorfstraße schrumpft zum schmalen Waldweg. Die Sonne scheint, am blauen Himmel treiben weiße Schönwetterwolken. Weit genug vom Baikal und der Angora entfernt ist es windstill und angenehm warm. Entlang des Wegs, unter den Bäumen und auf klenen, sonnigen Lichtungen blühen weiße, gelbe, rote und blaue Blumen. Am auffälligsten sind die gelben und orangen Kugeln der Trollblumen, die hier in Massen wachsen. Am wenigsten erwartet hätten wir den Siebenstern, der hier vermoderte Baumstümpfe bewächst. Überall Blüten: Blaue Akelei, eine merkwürdige grünblühende Lilie, Einbeeren, Storchenschnabel, Bärlapp, Veilchen und viele Pflanzen, deren Namen wir nicht kennen. Die Taiga präsentiert sich als heitere Idylle. Irgendwann reduziert sich unser Weg zum Pfad und verliert sich schließlich in der Wildnis. Hier ist es beinahme unheimlich still, nur das Gezwitscher der Vögel ist zu hören. Wir kehren um.
Mit dem Linienbus aus Irkutzk fahren wir von Nikola nach Listwjanka zurück. Als Mittagessen sind nur Plätzchen und Saft aufzutreiben. Den Nachmittag verbringen wir in der Nähe des Hauptdorfs von Listwjanka in der blütenübersäten, beängstigend menschenleeren Taige, der in der es Braunbären geben soll.
Für morgen 10 Uhr ist unsere Abreise nach Irkutzk vereinbart. Zufällig erfahren wir, dass dieser Termin auf den Nachmittag, 16:30 Uhr, verlegt wurde.
Dienstag 12. Juni 1990, Listwjanka
Die Eigenmächtigkeit von Intourist fügt sich ganz gut in unsere Pläne. Wir erhalten so Gelegenheit, an einer Führung durch das Museum des Limnologischen Instituts der Sibirischen Akademie der Wissenschaften der UdSSR teilzunehmen. Das Gebäude liegt an der Uferstraße, nur wenige 100 Meter vom Hotel entfernt. Wir sind zu dritt, außer uns nimmt nur noch eine allein reisende alte Dame aus den Niederlanden teil. Unsere Führerin, eine Lehrerin, trägt in englischer Sprache vor. Es ist ein kleines, aber feines Museum. Das Schwergewicht liegt auf den Fischen und Robben des Baikal und den Säugetieren der Umgebung. Daneben werden Vögel, Mineralien und Fossilien gezeigt. Das Institut hat einiges bei der Aufklärung der Geschichte und Ökologie des Baikalsees geleistet und bemüht sich um die Erhaltun des natürlichen Zustands. Spektakulärster Bestandteil der technischen Ausrüstung sind zwei kleine Tauchboote, die uns schon im Hafen von Listwjanka aufgefallen waren. Sie dienen u.a. zur Erkundung des lichtlosen Seebodens mit seiner merkwürdigen Fauna, etwa kleinen Fischen, die ihr Revier mit weißen Steinchen markieren. Das Institut beschäftigt 500 Personen, von Fischern vis zu Biologen, davon rund 150 Wissenschaftler. Zur Erhaltung des ökologischen Gleichgewichts wurde ein Projekt zur Industrieansiedlung innerhalb von drei Jahren ausgearbeitet und von den politischen Institutionen beschlossen. Als eines drer größten Probleme werden uns die drei Papierfabriken am Baikal und seinem Hauptzufluss, der Selenga, beschrieben. Die Selnga transportiert den Dreck aus Industrie und Haushalten der Großstadt Ulan Ude weitgehend ungereinigt in den Baikal, es ist dies die wichtigste Verschmutzungsquelle. Spürbar sind daneben die Einleitungen aus einigen Ortschaften an der Süd- und Nordspitze des Sees, im Norden ist insbesondere im Winter die Abwärme aus den Heißwassergeräten ein Problem. Noch verkraftet der See die Schmutzfracht. Die Uferbewohner werden mit Trinkwasser aus dem See versorgt, das keine Reinigungsanlagen durchläuft. Das gilt auch für das Hotel Baikal, in dem wir wohnen. Soweit ihre Häuser nicht an das Verteilernetz angeschlossen sind, schöpfen die Menschen am Ufer Wasser in Kanister und fahren oder tragen den Bedarf zu ihren Häusern.
Manche Auswirkungen menschlicher Eingriffe in die Ökologie konnten wieder beseitigt oder wenigstens gemildert werden. Beispielsweise hatte das Aufstauen des Sees um nur einen Meter, Folge der Wassrerkrafterzeugung an Staustufen in der Angora, unerwartete Konsquenzen. Weil die Nahrungskette an einer Stelle unterbrochen wurde, schmolz die Population eines Charakterfischs des Baikal dahin. Inzwischen wurde der ursprüngliche Wasserspiegel wieder hergestellt und die Art erholte sich. Ins Schwärmen gerät unsere Führerin immer wieder, wenn sie auf das glasklare Seewasser zu sprechen kommt. Bei einer kürzlich von Bord eines Schiffes durchgeführten Messung war die Dreißigmetermarke noch zu erkennen. Im Winter friert der Baikal völlig zu, das Eis sll auch heute noch so makellos sein, dass man seine Stärke nicht abschätzen kann. Im nördlichen Zipfel des immerhin 600 Kilometer langen Sees treiben bis Juni Eissschollen.
Das Nordwestufer fällt fast senkrecht bis zu 1600 Meter ab. Der Seeboden und seine Ränder sind geologisch aktive Zonen, die Gegend wird ständig von kleineren Erdbeben erschüttert, beim letzten großen Beben versank eine bewohnte Halbinsel im Wasser.
Ökonomisch ist der Robbenfang im Norden des Baikal von einiger Bedeutung. Unter Kontrolle, versichert unsere Führerin, werden jährlich 5000 Tiere für den Pelzhandel gejagt. Die Einheimischen erlegen für ihren Eigenbedarf noch einmal 4000 bis 5000 Baikalrobben pro Saison. Die Zobel, die im Nordosten des Baikal im Gebirge leben, sollen die besten Pelze ihrer Art besitzen. Sind in einem großen Gebiet total geschützt, außerhalb dieses Refuguims wird ihnen saisonal nachgestellt.
Vom Hotel aus erkennt man auf dem Berg, der die Landspitze zwischen Baikal und Agora bildet, einen Felsen mit einer kleinen Aussichtsplattform darauf. Am Nachmittag finden wir den Weg dort hinauf. Sobald wir die letzten Häuser von Listwjanka hinter uns lassen, beginnt wieder die Baum-, Strauch- und Blumenidylle der Taiga, die uns auch heute wieder fasziniert. Oben angelangt haben wir gute Sicht über den südlichen Baikal und die Berge des gegegenüberliegenden Ufers, über 2300 Meter hoch und mit Schneeresten gespenkelt, sind deutlich zu erkennen. Der Himmel bedeckt sich allmählich mit bleigrauen Wolken, entfernter Donner kündigt ein Gewitter an. Träge baumeln Stofffetzen an den Zweigen der Sträucher rngs um den Gipfel, vermutlich sollen sie Glück bringen.
FORTGESETZUNG IN DER GALERIE IRKUTZK
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