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Dienstag 12. Juni 1990, Irkutzk
Am Abend ziehen wir um in das Hotel Intourist in Irkutzk. Von unsere Zimmer im vierten Stock geht der Blick auf die Angara.
Selten haben wir uns auf Reisen so viele Gedanken über die Organsation der Gastronomie gamacht. Der Grund sind nicht so sehr die Engpässe und die geringe Auswahl, wenngleich es seltsam anmutet, dass ein großes Hotelrestaurant aus seinem Rohstoffkontingent nicht mehr als zwei oder drei ständig wiederkehrende Gerichte herstellen kann oder in einer REgion kein Bier aufzutreiben ist, andererseits Champagner im Überfluss vorhanden zu sein scheint und umgekehrt. Was uns immer wieder aufbringt ist die Haltung enes Großteils des Personals, das den Gast als Betriebsstörung einstuft und ihn entsprechend behandelt. So ergeht es uns auch heute Abend. Theoretisch sind die beiden Speiserestaurants des Hotels geöffnet. Wir betreten das Größere von beiden und bitten die fünf Damen, die den Tisch des Administrators umstehen, um Plazierung. Die Damen kirchern, fassen sich und weisen uns ab. Hier im zweiten Geschoß sei nur Platz für Gruppen, obwohl es fast leer ist und offentsichtlich ein paar „Individuals“, wie hier Einzelreisende bezeichnet werden, schon sitzen. Bitte ab ins erste Geschoß. Wir folge dem Befehl. Dort schnauzt uns die Administratorin an, was wir wollten. Ihrer Miene nach zu urteilen kann sie unser Anliegen, nämlich zu Abend zu essen, kaum fassen. Schließlich beruhigt sie und weist uns einen Tisch mit unvollständigen Gedecken an, obwoh durchaus vollständig eingedeckte Tische vorhanden sind. Nun haben wir zwar Plätze im Restaurant, aber noch lange nicht bestellt. Zwar bewegen sich drei Personen im Raum, die wie Kellnerinnen und Kellner gekleidet snd, die fühlen sich aber nicht angesprochen. Nach einer ereinignislosen Viertelstunde stellen wir die Adminstratorin so gut es die Sprachkenntnisse zulassen zur Rede und bequemt sich die stämmige Dame tatsächlich dazu, die zuständige Kellnerin herbeizurufen. Die kommt dann total gekränkt an unseren Tisch. Beim Bestellen rächt sie sich und nimmt auf unsere Verständigunsprobleme keine Spur Rücksicht.
Mittwoch 13. Juni 1990, Irkutzk
Heute erkunden wir das Zentrum von Irkutzk, die Gegend um die Karl-Marxa-Uliza und die Maratna-Uliza, besuchen Buchläden, Schmuckgeschäfte, das Stadtmuseum. Ein Buchladen verkauft Frontkarten des Zweiten Weltkriegs, eine Art Militaria des „Großen Vaterländischen Kriegs“. In enem Schmuckgeschäft, Irkutzk ist das Zentrum der Nephrit und Lapislazuliverarbeitung, herrscht am Vormittag wahnsinniger Andrang. Mittags ist der Laden annähernd ausverkauft. Irkutzk wirkt auf uns viel mehr als Achschabad, Taschkent oder Alma Ata wie eine europäische Stadt. Zwar sind auch hier die Straßen von Baumreihen gesäumt, doch der Zusammenhang der Gebäude verliert sich nicht zwischen Baumkronen. Die Straßenbäume sind fast durchweg Pappeln. Heute fliege die weißen Flocken mit den Samen, geraten in Augen, Ohren und Nase, verfangen sich in den Haaren, bilden auf den Gehsteigen flauschige Polster, die der Wind vorsichhertreibt. Das Stadtbild prägen alte ein- und zweigeschoßige Holzhäuser mit komplizierten Schnitzereien. Leider ist der Zustand dieser und anderer Häuser nicht sehr gut.
Donnerstag 14. Juni 1990, Irkutzk
In einer Kirche bei der Gedenkstätte für den Zweiten Weltkrieg, nicht weit vom Ufer der Angara, ist ein Museum. Gezeigt werden präparierte Tiere des Oblast (Bezirks), Schmetterlinge und Käfer aus aller Welt, lebendig in Terrarieren etliche Schlangen, Lurche und Insekten, teilweise aus Zentralasien, und im Obergeschoß Kunsthandwerk aus China und Tibet.
Am Nachmittag fahren wir mit dem O-Bus in das Universitätsviertel am Westufer der Angara, Nach einigem Suchen und mit Hilfe von drei netten, schüchternen Studentinnen finden wir den Seiteneingang zum Mineralogischen Museum der Irkutzker Polytechnischen Hochschule. Der Aufwand lohnt sich, hier kann man nicht zuletzt viele schöne Fundstücke aus dem Bezirk und aus ganz Sibirien betrachten. Die Sammlung ist akribisch geordnet. Wir sind die einzigen Besucher.
Freitag 15. Juni 1990, Irkutzk
Morgens Viertel vor Sieben klingelt der Wecker. Unser Plan sieht eine Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn von Irkutzk bis nach Sludjanka am Südwestufer des Baikalsees vor, wie uns mehrfach versichert wurde wurde landschaftlich und wegen der waghalsige Bahntrasse, die sich in engen Kurven zum See hinabwindet, ein beeindruckendes Erlebnis. Rechtzeitiges Eintreffen auf dem Bahnhof erscheint angezeigt, denn am Vorabend hatte sich die Beamtin am Schalter geweigert, vorab Billets auszustellen. Doch der Blick aus dem Fenster zeigt einen bleigrauen Himmel, die Bäume biegen sich unter Windböen. Es regnet. Da brechen unsere Vorsätze in sich zusammen und wir legen uns wieder schlafen. Den Tag vertrödeln wir lustlos und ohne besonderes Ziel.
Am Abend bestätigt uns das Servicebüro im Hotel, dass es doch noch gelungen ist, den Rückflug nach Moskau einen halben Tag vorzuverlegen. Das bedeutet um vier Uhr morgens aufzustehen. In Gedanken beschäftigen wir uns nach dem Zeitungsstudium zunehmend mit Weltpoitik und mit unserer Arbeit zu Hause.
Samstag 16. Juni 1990, Irkutzk – Moskau
Viertel vor fünf klopft der Hotelportier an unsere Türe, wir sind bereit.. Dann sitzen wir in der schummrig beleuchteten Hotelhalle. Draußen bleibt alles still, kein Intouristauto biegt auf den Vorplatz ein. Auf der Suche nach Unterstützung stellen wir fest, dass die Halle nur scheinbar leer ist, in verschiedenen Winkeln schläft Nachtpersonal. Wir finden den Richtigen, ein Telefonat, mit eniger Verspätung beginnt der „Transfer“ zum Flughafen.
Die Tupolew 154 benötigt drei Stunden bis zur Zwischenlandung im westsibirischen Omsk und nach 40 Minuten Aufenthalt weitere drei Stunden bis Moskau. Wir starten um 6:30 Uhr und kommen um 8:30 Uhr (Ortszeit) an. Für die letzte Übernachtung ist das Hotel Belgrad in der Nähe des Arbat und gegenüber des Außenministeriums vorgesehen. Unser Wunsch, noch am gleichen Nachmittag den Weiterflug zu erhalten, führt zum Zusammenstoß mit einer Frau von der Rezeption. Sie weigert sich dreist die Flugtickets zurückzugeben, die wir für die Umbuchung durch das Servicebüro benötigen und will uns auf unser Zimmer im 19. Stockwerk schicken. Das Servicebüro ist theoretisch geöffnet, praktisch jedoch nicht besetzt. Schließlich können wir unser Anliegen vortragen. Nach langer Wartezeit erhalten wir den Bescheid, Aeroflot könne nicht einmal den regulären Flugtermin bestätigen. Wir sollen uns am nächsten Morgen auf dem internationalen Flughafen Scheremetjewo 2 beim Intouristschalter melden. Dort werde man sich um uns kümmern. Wir sind einigermaßen beunruhigt, denn wir hatten von Engpässen bei Aeroflot gehört. Aber alle Versuche noch am gleichen Abend eine Klärung herbeizuführen, scheitern an den Bürozeiten und Unzuständigkeit.
Sonntag 17. Juni 1990, Moskau – Frankfurt
Im Abfertigungsgebäude herrscht hektisches Gedränge. Dass der Schalter von Intourist geschlossen ist, ruft bei uns nur noch ein müdes Lächeln hervor. In der Schlange vor dem Aeroflotschalter geraten wir in eine deutsche Reisegruppe. Unter den Heimkehrenden grassiert die Furcht, ihr Trupp könnte durch uns auseinandergerissen werden. Eine stämmige, ältere Frau mit ausgeprägtem bayrischen Dialekt tut sich besonders hervor, Gerhard Polt lässt grüßen.
Kurz vor der Landung in Frankfurt komme ich mit meinem Sitznachbarn, einem russischen Geschäftsreisenden aus Moskau, ins Gespräch. „Vier Wochen Urlaub in der Sowjetunion, einen ganzen Monat lang?!“, staunt er.
ENDE
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