Achschabad/Turkmenien

Freitag 25. Mai 1990: Von Moskau nach Achschabad (Turkmenien)

Der Wecker reißt uns Viertel vor sechs aus dem Schlaf. Für unser Frühstück aus süßen Stückchen und Pulverkaffee haben wir am Vorabend selbst gesorgt. Die Etagenfrau im Hotel Rossija ruft das Taxi und kurz darauf sind wir auf dem Weg zum Flughafen Domodedovo. Der Weg dorthin beträgt etwa 50 Kilometer; er führt, nachdem wir die Trabantenstädte hinter uns gelassen haben, durch Weiden und Laubwälder. Zehn Rubel kostet diese Fahrt, ein Bruchtei dessen, was für wir den „Transit“ mit Intourist zu entrichten hatten. Der teure Gutschein verfällt.

Domodedovo bedient die innersowjetischen Langstrecken. Die Flughafengebäude besitzen wenig Ähnlichkeit mit dem moderen, aufgeräumten Scheremetjewo 2, sie wirken desolat, zerbröckeln bereits. Wir orientieren uns an der Anzeigetafel und warten zusammen mit europäisch, türkisch und mongolisch wirkenden Fluggästen. Etliche scheinen vom Land zu kommen, manchen haftet Stallgeruch an. Als der Schalter öffnet, werden wir sogleich zum Intouristbüro geschickt, denn das staatliche Monopolunternehmen hat alle nichtsowjetischen Reisenden zu betreuen. Mit einem Bus gelangen wir zu einer weiteren Abfertigungshalle. Hier herrscht das Chaos. Die Schalter sind nicht gekennzeichnet und Passagiere verschiedener Flüge drängen sich gleichzeitig, bepackt mit zahlreichen sperrigen Koffern und Schachteln, nach vorn. In dem Durcheinander gelingt es uns nur mühsam, uns bemerkbar zu machen, und so ziemlich als Letzte kommen wir durch die Gepäckkontrolle und zum Bus zu der dreistrahligen Tupolew 154. Leider sind die Mitreisenden an der Landschaft nicht interessiert, die Fenster der Maschine werden erbarmungslos abgedunkelt. Meine Sitznachbarin reist mit ihrer kleinen Tochter auf dem Schoß. Später teilen wir uns ein Tablett, es ist verdammt eng. Ein alter Mann aus Turkmenien beschenkt die Kleine und auch uns mit getrockneten Aprikosen und gerösteten Mandeln aus seinem Reiseproviant.

Mit einer halben Stunde Verfrühung landen wir auf dem Flughafen von Achschabad, der Hauptstadt Turkmeniens. Es ist gleißend hell und heiß, von der Karakumwüste weht ein trockener Wind herüber.

Während wir noch auf das Gepäck warten, spricht uns ein Intourist-Mitarbeiter an. Der PKW für den „Transit“ zum Hotel Achschabad steht, anders als in Moskau, schon bereit, und auf der Fahrt dorthin erfahren wir Einzelheiten des örtlichen Intourist-Programms. Unser Zimmer im 5. Stock ist eine herbe Enttäuschung. Das Hotel, Ende der Sechziger gebaut, ist eine Ruine. Die spartanische Einrichtung des Raums ist vernutzt, verschlissen, verschmutzt. Immerhin funktioniert die Toilettenspülung, das kalte und warme Wasser und eine Leuchtstoffröhre an der Decke. Das Badezimmer stinkt, die Türe dorthin klemmt und lässt sich nicht ganz schließen, der Türrahmen ist feucht und vom Holzschwamm zerfressen. Von der Decke bröselt der Anstrich. Die Reste des Teppichbodens starren vor Schmutz, stellenweise haben sie sich von der Unterlage abgelöst. Vom Balkon geht der Blick auf die Hauptstraße von Achschabad; es wird eine laute Nacht werden.

Das Intouristprogramm wirkt nicht uninteressant, aber die Preise sind hoch: Ausflug zum „unterirdischen See“ (89 US-Dollar) oder in eine „Bergschlucht“ (32,50 US-Dollar), Stadtrundfahrt, Besuch des Botanischen Gartens, des Museums für Bildende Kunst, des Historischen Museums oder der Ruinen von Niša (je 21,50 US-Dollar). Die Preise gelten für zwei Personen, Intourist stellt einen PKW mit Fahrer und einen deutschsprachigen Betreuer bzw. Dolmetscher.

Nachdem uns klargeworden ist, dass der Zustand unseres Zimmers keine Ausnahme ist, finden wir uns damit ab. Wir unternehmen einen ersten Spaziergang in die Stadt. Die Straßen sind schachbrettartig angeordnet, breit, gesäumt von doppelten, mitunter drei Baumreihen. Zwischen Straße und Gehsteig sind offene Bewässerungsrinnen aus Betonfertigteilen verlegt, die Aryks. Das Wasser aus den Gräben verdunstet und erzeugt bei über 30°Grad Celsius ein schwül-heißes Kleinklima. Wir schwitzen. Überall begegnen wir Mädchen und Frauen in knöchellangen, meist einfarbigen Kleidern in leuchtendem Purpur, Weinrot, Dunkelblau und Grün. Alle tragen bunte Kopftücher. Die Gesichtszüge sind sehr unterschiedlich, wirken türkisch, iranisch oder mongolisch. Jungen und Männer legen keinen Wert auf traditionelle Kleidung, mit Ausnahme von ein paar Alten mit überdimensionalen zotteligen Schaffellmützen. In den Hauptstraßen sind Getränkeautomaten aufgestellt, ein Glas kostet drei Kopeken. Man spült eines der beiden Gläser über einer kleinen Wasserfontäne, füllt es dann mit Limonade, trinkt aus und stellt es wieder an seinen Platz. Wir entdecken ein Restaurant mit Teeausschank. Gläser, Tische und Stühle sind reichlich schmutzig, der heiße grüne Tee belebt. Getrennte Abteilungen für Männer und Familien, wie wir es ein Jahr zuvor in der Türkei kennengelernt haben, gibt es hier nicht.

Für 19 Uhr hat Oleg, einer der Intouristbetreuer, das Abendessen im Hotel Achschabad reserviert. Als Getränk bietet die Kellnerin ausschließlich Sekt an, Wein, Bier und sogar Pepsicola gibt es nicht. Schließlich erhalten wir einen Krug eines gekühlten, sehr wohlschmeckenden Fruchtsaftgetränks, das beinahe auf jedem Tisch steht. Während wir die ersten Bissen zu uns nehmen, legt die Band infernalisch laut mit Evergreens los und jegliche Unterhaltung ist wirksam unterbunden. Am größten Tisch des Restaurants feiert eine Hochzeitsgesellschaft.

 

Samstag 26. Mai 1990, Achschabad

Das war ein gelungener Tag. Frühstück nach 9 Uhr mit Graubrot, Käse, Quark und einer undefinierbaren Marmelade. Dann gemächlich zu Fuß durch die Stadt zum Botanischen Garten am Westrand von Achschabad. Unterwegs begegnen wir einer turkmenischen Hochzeit, mit viel Gehupe fährt die Gesellschaft, auf etliche Autos verteilt los, aus den Fenstern hängen bunte Tücher. Der ausgedehnte Botanische Garten (Eintritt 20 Kopeken) hat mit den uns bekannten Einrichtngen gleichen Namens nur bedingte Ähnlichkeit. Eine Übersichtstafel am Eingang weist Sektionen mit Pflanzen bestimmter Länder aus, aber der erste Eindruck ist der einer homogenen, durchaus reizvollen Wildnis. Unter den Büschen wachsen besonders große, runde, gelbblühende Walderdbeeren, leider schmecken sie fad und werden nur selten gegessen. Auf einer Bank im Schatten sitzend lassen wir die Umgebung auf uns wirken. In etlichen Bäumen und Sträuchern sind Pappeschilder mit den lateinischen Namen befestigt, darunter und dazwischen wächst was wachsen will. Viele uns unbekannte Vögel sind kurz zu erblicken, meist nur zu hören. Auf unserem Weg gelangen wir dann zu einer kahlen, sandigen Lichtung, auf der sich lediglich ein paar bescheidene blattlose Sträucher verteilen. Die Schilder bestätigen unseren Verdacht: Wir sind in der turkmenischen Abteilung auf den weißen und schwarzen Saxhaul gestoßen, Sträucher der Karakorum- und Kysilkumwüste. Während wir noch über diese Entdeckung staunen, kommt eine Familie daher und ein etwa fünfjähriger Knabe ruft beim Anblick der turkmenischen Charakterpflanzen entsetzt „plocha!“ (hässlich!) aus. Nur an wenigen der Saxhaulsträucher finden wir die winzigen, rötlichen Blüten, häufiger die eigenartgen Knäuel  der roten oder gelben Früchte. In den Zweigen turnen große graugrüne Käfer. Im Ostteil des Parks ist das Palmenhaus, davor eine Rabatte mit prächtigen, gelb und rot blühenden Opuntiensträuchern. Etliche weitere Gewächshäuser dienen der Zucht von Schnittblumen wie Gladiolen, Nelken und Aronstab, keine typische Aufgabe für einen Botanischen Garten. Auf dem Rückweg zum Eingang passieren wir drei Becken mit rosafarbenen, roten und gelben Seerosen, dazu gelben Teichrosen. Fette grüne Frösche quaken und verstummen beim Näherkommen. Im Wasser schwimmen tausende kleiner Fische, Gambusen aus der Verwandtschaft der lebendgebärenden Zahnkarpfen. Als wir den Botanischen Garten verlassen ist es 14 Uhr und wir sind hungrig. Die Türsteherin eines nahegelegenen Hotelrestaurants weist gebieterisch russische Gäste vor uns ab und damit ist diese Idee im Keim erstickt. Ein paar Schritte weiter finden wir ein turkmenisches Restaurant mit Garten. Die Bezeichnung Café ist irreführend. Man stellt sich vor einen Tresen in der Küche an und hat die Wahl zwischen einer Brotsuppe mit Hühnerbrühe und Pilav mit etwas Rindfleisch und Karotten. Die Portionen schöpft die Köchin aus riesigen Kesseln. Sie kassiert einen Rubel pro Portion. Ohne die Kanne grünen Tees würde mir der Pilav bei dieser Hitze im Hals steckenbleiben. Uns beeindruckt, in welch schweinischem Zustand Einheimische, besonders männliche, turkmenische Jugendliche, die Tische verlassen und schließen daraus, dass die häusliche Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau noch sehr unterentwickelt sein dürfte.

Eine halbe Stunde später ereichen wir den privaten Markt, hier Basar genannt. Das Angebot ist reichhaltig, aber gemessen am Durchschnittseinkommen teuer. Es gibt Kartoffeln, Rote Beete, Spinat, Maulbeeren, Äpfel, Kräuter, Auberginen, Walnüsse, Haselnüsse, Tomaten, Gurken, Paprika, getrocknete Aprikosen, Rosinen, Geflügel. Alles wird sorgsam zur Schau gestellt, Gemüse und Geflügel besprengt man von Zeit zu Zeit mit Wasser. Am Ausgang parkt ein Tankanhänger und am Ventil sitzt ein Verkäufer und schenkt eine dunkelbraune Flüssigkeit in Gläser und Maßkrüge ein. Der Andrang ist enorm, wir stellen uns an.

Das Hotelrestaurant lässt heute nur Gäste mit Reservierung ein, wir gehören dazu. Heute ist sowohl Mineralwasser als auch Pepsicola erhältlich, aber nicht das köstliche Fruchtsaftgetränk vom Vortag. Wir probieren den Sekt, der hier so reichlich genossen wird und aus Aserbeidschan kommt. Das Essen ähnelt dem des Vorabends, schmeckt aber vorzüglich. Bevor die Brachialmusiker losdonnern, was offenbar nur ein paar Ausländer stört, flüchten wir aus dem Saal.

 

Sonntag, 27. Mai, von Achschabad zum Barcharden-See

Um 10 Uhr vormittags holen uns die Dolmetscherin von Intourist und ein Fahrer mit einem beigen, etwas betagten Wolga vom Hotel ab. Unser Ziel ist der „unterirdische See“ aus dem Intourist-Programm, der Barchardensee in  der Nähe des gleichnamigen Orts, etwa 100 Kilometer nordwestlich von Achschabad im Kopetdaggebirge. Die Fahrt führt die meiste Zeit am Karakumkanal entlang, der die landwirtschaftlich genutzten Flächen am Fuß der Berge bewässert. Am Straßenrand fallen rote, orange, gelbe und grüne Tamariskensträucher auf. Am Fuß des Kopetdag erkennen wir die Befestigungen der sowjetisch-iranischen Grenze, die dem Anschein nach gut bewacht wir. Die Soldaten der sowjetischen Grenztruppe erinnern mit ihren breitkrempigen Hüten und den hellen, sandfarbenen Uniformen an amerikanische Pfadfinder.

Der Fahrstil unseres turkmenischen Fahrers verdient die Bezeichnung „kompromisslos“. Der Tacho zeigt 80, doch unserem Gefühl nach fahren wir zeitweise gut 100 Stundenkilometer, zu schnell für die Straße. Er überholt gutgelaunt auch bei Gegenverkehr, wir könnten die entgegenkommenden Wagen mit der Hand berühren. Bei einer Bodenwelle hebt unser Wolga ab, wir knallen mit den Köpfen an den Himmel, aber es bleibt beim Schrecken. Unsere Intouristbegleiterin scheint sich nicht zu fürchten. An einem Abzweig bremst unser Chauffeur im letzten Moment heftig und biegt mit kreischenden Reifen ab. Kurz darauf erreichen wir einen Parkplatz am Fuß eines Felsrückens und sind am Ziel. Mit Hilfe von Intourist passieren wir den umlagerten Eingang zur Höhle, unsere Begleiter bleiben hier zurück, und wir laufen die kaum beleuchtete Treppe zum unterirdischen See hinab. Hier sind wir alles andere als allein. Am Geländer einer Terrasse lehnen Frauen und Männer in Badekleidung, im vorderen Teil des Sees, der lang und schmal und tief eine gewaltige Felsspalte ausfüllt, planschen einige Dutzend Badegäste. Niemand schwimmt weit hinaus, die fast vollständige Finsternis hält davon ab. Wir können dem Treiben nicht viel abgewinnen und machen uns bald wieder an den Aufstieg. Erst jetzt wird uns bewusst, welch tropische Schwüle hier herrscht. Das Mineralwasser des Sees ist bis zu 37°C warm. Im Dämmer des Höhleneingangs schauen wir eine Weile den Spatzen, Tauben und Fledermäusen zu, die hier nisten. Wir drängen uns ins Freie und die Bewacher am Tor zur Höhle Kor-Ata (Vater der Höhlen) lassen neue Gäste ein.

Mit mehreren PKWs ist eine turkmenische Hochzeitsgesellschaft auf dem Platz vor der Höhle eingetroffen und stellt sich zum Gruppenbild auf. Die total verschleierte Braut wirkt stocksteif in ihrer Prachtkleidung. Die Frauen tragen die typischen bunten, knöchellangen, turkmenischen Kleider, an den Männern fallen am stärksten die ausladenden weißen oder schwarzen Schaffellmützen auf. Die Gesellschaft gruppiert sich alsbald zu zwei Kreisen, traditionelle Musik plärrt aus mitgebrachten Lautsprechern, Frauen und Männer tanzen getrennt. Aber nicht lang, nach ein paar Minuten ausgelassenen Treibens steigen sie wieder in die Autos, die Männer teilweise reichlich betrunken, und verschwinden in der Wüste.

Die Turkmenen sprechen dem Wasser des unterirdischen Sees heilkräftige und fruchtbarkeitsfördernde Wirkungen zu, so wurde uns erzählt. Doch die Hochzeitsgesellschaften, die an den Wochenenden zahlreich hierher kommen, nutzen den Berg mit der Höhle heute nur noch als Kulisse für ein paar Fotos, die Brautleute steigen nicht mehr ins Bad.

Zurück im Hotel setzen wir das Gespräch mit unserer Intourist-Betreuerin fort. Sie versichert uns unter anderem, dass die Nationalitäten in Turkmenien friedlich zusammenleben, sich bereits erheblich vermischt haben und  ein Aufbrechen von Konflikten wie zwischen Armeniern und Aserbeidschanern nicht zu befürchten ist. Wir hoffen, sie möge recht behalten.

Am Nachmittag besuchen wir das historisch-ethnografische Museum von Achschabad. Die Exponate stammen zum größten Teil von Ausgrabungen in Nis. Die Sammlungen wirken sehr gepflegt und die Präsentation ist professionell. Wir erhalten eine Führung in deutscher Sprache. Durch den Saal mit deutschen Beutestücken der Sowjetarmee, sowjetischen Waffen und Propagandaplakaten aus dem großen vaterländischen Krieg möchte uns die liebenswürdige Führerin möglichst schnell hindurchlotsen, wohl aus Rücksicht auf die Gefühle der westdeutschen Gäste. Doch wir haben sehr viel Verständnis für diesen Raum. Erst vor drei Wochen wurde eine Ausstellung über den Islam in Turkmenien eingerichtet. Dies fügt sich in die Bemühungen ein, den nationalen Besonderheiten, inklusive Religion und Sprache mehr Raum zu geben. Beispielsweise lernen russische Kinder auch turkmenisch. Auch wurde beschlossen in Achschabad eine Moschee zu bauen.

Beim Abendessen im Hotel erwartet uns eine Überraschung. An unserem Tisch nehmen zwei Herren aus der DDR Platz, Angestellte einer großen Landmaschinenfirma. Wir kommen ins Gespräch, über die Sowjetunion, die beiden sind viel herumgekommen, und schließlich über die Einverleibung der DDR durch die BRD. Wir freuen uns aufrichtig DDR-Menschen kennenzulernen, die den Fehlern des Westens ebenso kritisch gegenüberstehen, wie denen des Realen Sozialismus. Am Mittwochmorgen werden wir einen der beiden wiedertreffen, in der Maschine nach Taschkent.

 

Montag 28. Mai, von Achschabad zur „Bergschlucht“

Um 10 Uhr treffen wir uns mit Schenja vom Intourist-Team in der Hotelhalle. Unser Fahrer vom Vortag fährt pünktlich vor. Das Ziel ist heute die „Bergschlucht“, in Wahrheit eher ein enges Tal in den Vorbergen des Kopetdag südwestlich von Achschabad im militärischen Sperrgebiet entlang der iranischen Grenze. Am Stadtrand passieren wir ein weites Areal, auf dem der neue Botanische Garten entsteht. Diesmal befragen wir unsere Begleiterin besonders ausgiebig nach Flora und Fauna; Schenja ist unserem Wissensdurst gewachsen. Wir hören (und sehen), dass das Kopetdaggebirge durch Menschenhand völlig baumlos ist und können nicht begreifen, dass angesichts der Wasserknappheit in Turkmenien keine Anstrengungen zur Wiederaufforstung und damit zur Klimaverbesserung unternommen werden. Die Bewässerung durch den Karakumkanal erscheint uns angesichts des austrocknenden Aralsees jedenfalls nicht als der Weisheit letzter Schluss. Von der Straße hat man eine gute Aussicht auf die Oase Anaus mit den Ruinen der antiken Stadt Niš.

Wir fassen es nicht, aber unser Fahrer gibt heute noch mehr Gas als gestern. Während wir die kurvige Gefällestrecke hinabjagen, überschlagen wir im Geiste unsere Überlebenschancen und kommen auf keinen sehr hohen Wert. Aber bald können wir aufatmend aussteigen. Unsere Begleiterin billigt uns eineinhalb unbeaufsichtigte Stunden zu. Während sie sich mit dem Fahrer beim Restaurant in den Schatten setzt, erkunden wir den üppigen Galeriewaldsaum im Talgrund. In den ruhigen Buchten des schnellfließenden Baches leben beachtlich große, grüne und braune Frösche; ihr durchdringendes Quaken ist noch an den Berghängen zu vernehmen.

Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Entlang eines schmalen, trockenen Seitentals  führt ein Pfad steil in die kahlen, steinübersäten Hänge. Heiße Luft flirrt über grauen und ockerfarbenen Felsen. Ein Blick auf die Uhr macht den weiteren Aufstieg illusorisch. Am Umkehrpunkt bleiben wir eine Weile stehen und entdecken nun verschiedene Vögel, Echsen und in einiger Entfernung ein bepelztes Tier, das vielleicht ein Schakal  oder ein Fuchs ist. Unter uns schlängelt sich der Laubwaldstreifen, der den Bach, das Restaurant und unsere Betreuer verbirgt, wie ein grüner Wurm.

Punkt 12 Uhr sind wir zurück, unsere Intourist-Begleiter erwarten uns schon ungeduldig. Aus dem fahrenden Auto erkennt Schenja eine Schlange, die gerade die Straße überquert. Der Fahrer stößt zurück und wir sehen eine Levanteotter im Gebüsch verschwinden.

Die Intourist-Exkursionen sind für unseren Geschmack viel zu kurz. Wir wollen am Nachmittag in die Oase Anaus – und zwar ohne Aufpasser. Die Fahrer der Taxen, die wir stoppen, begreifen unseren Wunsch nicht oder geben uns zu verstehen, dass sie den Auftrag nicht akzeptieren. Anaus liegt außerhalb der Stadtgrenzen von Achschabad und ist unsere Visa nicht eingeschlossen. Sieht man uns das an? Ziemlich wütend geben wir schließlich auf. Wir wissen jetzt, dass wir Anaus entweder als zahlende Gäste von Intourist besuchen werden – oder gar nicht.

 

Dienstag 29, Mai: Wüstenforschungsinstitut in Achschabad

Um 10:45 Uhr sind wir mit Lenja von Intourist verabredet. Gemeinsam gehen wir den kurzen Weg vom Hotel zum Wüstenforschungsinstitut. Unser Interesse an dieser Einrichtung, die seit 1962 existiert, hat Lenja aufgegriffen und kurzerhand ein Gespräch mit dem Institutsleiter und einem Mitarbeiter vermittelt. Wir wissen das zu schätzen, sind aber auch ein wenig unsicher. Der Stellvertreter des Chefs empfängt uns am Eingang und geleitet uns in einen Hörsaal. Als Einführung bekommen wir einen Videofilm mit englischem Ton über die Auswirkungen des Karakumkanals und die Arbeit des Instituts zu sehen. Dann erscheint der Direktor und nach der Begrüßung bilden wir zu fünft eine Gesprächsrunde. Wir stellen unsere Fragen, Lenja übersetzt und einem Mitarbeiter des Instituts obliegt es, Protokoll zu führen. Wir wollen vorallem wissen, ob die Karakumwüste noch wächst, ob Alternativen zur Wasserversorgung durch den Karakumkanal realisiert werden, ob an die Wiederaufforstung des Kopetdaggebirges gedacht wird. Teilweise zielen unsere Fragen am Arbeitsbereich und der Ausrichtung des Wüstenforschungsinstituts vorbei und wir werden an die zuständigem Institutionen verwiesen. Das der Karakumkanal dem Amu-Darja-Fluss viel Wasser entzieht und so zur Austrocknung des Aralsees erheblich beiträgt, wird nicht bestritten. Auch ist die Bodenversalzung durch Bewässerung von Wüstenböden bestens bekannt. Die Wüste wächst, Folge von Überweidung und Dünenwanderung. Durch Landwirtschaft und Großprojekte, wie z.B. den Bau von Bewässerungssystemen und Industrieansiedlungen, werden Tiere und Pflanzen dezimiert. Das Institut experimentiert mit neuen Futterpflanzen, arbeitet an Projekten zur Dünenbefestigung und zur landwirtschaftlichen Nutzung von Wüstengebieten; es untersucht die Auswirkungen menschlicher Eingriffe in die Wüste und unterhält ständig besetzte Forschungsstationen im Repetek- und im Nepidag-Naturreservat, daneben mehrere zeitweilig besetzt Stationen. Seit 1979 hat das Institut die Leitung des berühmten Nepetek-Parks. Schließlich bewirbt sich das Institut um Forschungsprojekte staatlicher Stellen der Sowjetunion und macht im internationalen Rahmen Auftragsforschung, etwa für Auftraggeber in Lybien, Algerien, China und den USA. Wir sind ehrlich beeindruckt.

Nach einer guten Stunde glauben wir die Zeit der Institutsleitung und unserer perfekten, meist simultan übersetztenden Dolmetscherin genügend beansprucht zu haben und leiten den Abschied ein. Doch jetzt stellt sich heraus, dass man auch an uns Fragen hat. Reisen Sie im Auftrag einer Umweltschutzorganisation? (Nein, privat). Wie ist das mit den Grünen in der BRD? (Verbürgerlichte Umweltschutzpartei auf dem absteigenden Ast). Was halten Sie von der Fusion der beiden deutschen Staaten? (So, wie es läuft: Nichts! Einem demokratischen Sozialismus in den Grenzen der DDR hätten wir entschieden den Vorzug gegeben). Ein intensives Gespräc entwickelt sich dann über den Aufbau und die Funktionsweisen der Umweltschutzbehörden in der BRD. An dieser Stelle kommt die Sprache natürlich auch auf das Umweltamt der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden, in dem ich arbeite. Unsere Gesprächspartner sind erstaunt über die Kontrollrechte und Gestaltungsmöglichkeiten kommunaler westdeutscher Umweltbehörden. Um die Situation nicht zu rosig darzustellen, betonen wir die Bedeutung des Umweltbewusstseins der Bevölkerung und der unabhängigen Umweltschutzinitiativen, Faktoren, die konsequenten Umweltschutz durch die Verwaltungen erst legetimieren. Großes Interesse zeigt man auch an den Folgen der Einwanderung Deutschstämmiger in die BRD und in diesem Zusammenhang an der Abwanderung der Deutschen aus der Sowjetunion, die schwer zu schließende Lücken aufreißen würde. Wir werden nach den Wohnungsmieten zu Hause gefragt und unsere Antwort (30 bis 60 % des Einkommens) erstaunt. Am Ende überreicht man uns zwei Medaillen des Wüstenforschungsinstituts, wie sie in der UdSSR so gern und zahlreich an der Brust getragen werden, als Andenken. Es ist ein herzlicher Abschied.

Nachmittags erfahren wir, dass unsere Fahrt nach Anaus, der Schenja von Intourist an diesem besonders heißen Tag ohne Begeisterung entgegengesehen hatte, wegen eines PKW-Defekts ausfällt. Ersatzweise laufen wir bei 35°C im Schatten in den ärmeren Stadtvierteln, im hügeligen Teil im Süden von Achschabad, herum, finden die Baustele der Moschee und landen schließlich im Zoo, einem besonders engen und teilweise verwahrlosten Tiergefängnis. Eine Schulklasse hat sich vor den Käfigen verteilt und die Kinder, vielleicht 12 bis 14 Jahre alt, malen mit großem Geschick Aquarelle von den Tieren.

Zurück im Hotelzimmer schlagen wir die letzte Schlacht mit den Kakerlaken – morgen fliegen wir nach Taschkent. Mir ist übel, das letzte Glas Kwas oder sonst etwas ist mir nicht bekommen und auch der grüne turkmenische Tee, den die Etagenfrau für uns kocht, kann daran nichts ändern.

 

Mittwoch 30. Mai 1989: Flug von Achschabad nach Taschkent

8:15 Uhr, Schenja begleitet uns zum Flughafen. Wir hoffen, dass wir sie und ihre Kollegin Lenja eines Tages in Frankfurt begrüßen können. Eine Stunde später startet die Tupolew 154, pünktlich wie immer.

 

FORTSETZUNG FOLGT in der Galerie Taschkent/Usbekistan